Menschen mit psychischen Erkrankungen, welche sich in psychiatrischer psychopharmakologischer Behandlung befinden, werden oft im Stich gelassen, wenn sie sich entschließen, ihre Medikamente absetzen zu wollen.
Mittlerweile weisen viele Studien daraufhin, dass die gesundheitlichen Risiken von Psychopharmaka im Verlauf der Einnahme jedoch zunehmen. Vor allem Neuroleptika halten diverse Risiken bereit, genannt seien zum Beispiel das metabolische Syndrom und tardive Dyskinesien. Als besonders schwierig abzusetzen gelten Antidepressiva.
Die Hälfte aller Psychiatriepatiente*innen entscheidet sich deshalb, die ärztlich verordneten Psychopharmaka im Laufe der Behandlung von sich aus abzusetzen. Rezeptorenveränderungen, Entzugs-, Rebound- und Supersensitivitätssymptome bei allen Arten von Psychopharmaka machen das Absetzen oft zum Problem. Es bedarf daher einer Strategie der allmählichen Dosisreduktion, bis schließlich nach Wochen bis Monate das Medikament Medikation ganz abgesetzt ist. Den Plan dazu sollten Patient*innen gemeinsam mit ihren behandelnden Ärzt*innen oder mit anderen qualifizierten Unterstützer*innen ausarbeiten. Für den Fall, dass ein komplettes Absetzen nicht möglich ist, sollte es darum gehen, die weitere Psychopharmaka-Einnahme auf die niedrigste Dosis zu reduzieren, um langfristige gesundheitliche Risiken zu minimieren.
In Deutschland engagieren sich in der Psychexit-AG seit vielen Jahren zahlreiche Experter*innen dafür, ausgehend von wissenschaftlichen Erkenntnissen und klinischen Erfahrungen, Unsicherheiten in der Reduktion und beim Absetzen von Psychopharmaka in der Praxis abzubauen. Neben der Aufarbeitung von Informationen und der Durchführung von Beratung führt die Arbeitsgruppe mit der Unterstützung von verschiedenen Wohlfahrtsverbänden jährlich das Symposium Psychexit durch, das sich mit der Aufklärung beim Absetzen von Psychopharmaka beschäftigt und Informationen für Betroffene und Fachkräfte vermittelt.
Die Vorträge und Diskussionen des Symposiums können hier unter anderem als Videos frei eingesehen werden.
Der Bedarf an Angeboten in der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung ist bundesweit gestiegen. Ebenso haben die Komplexität der Bedürfnisse der Klient*innen und die fachlichen Anforderungen an die psychosoziale Versorgung in den letzten Jahren zugenommen.
Wie Soziale Arbeit diesen Veränderungen in der Praxis konkret begegnen kann, sollen am 29. September 2023 auf dem Fachtag Nord der drei Landesarbeitsgemeinschaften Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. in Hamburg anhand von ausgewählten Projekten der sozialpsychiatrischen Versorgung in Norddeutschland vorgestellt und diskutiert werden.
Für Mecklenburg-Vorpommern beteiligt sich der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. an der Fachtagung im Rahmen eines Impulsvortrages zu den aktuellen Herausforderungen und Perspektiven in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern sowie im Rahmen eines Forums zu seinen aktuellen Projekten und Initiativen wie der Landesfachstelle für Kinder aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien, dem Modellprojekt “Adoleszenzpsychiatrie” oder dem Rehapro-Projekt “IPS-Coaching – Zurück ins Berufsleben”.
Weitere Informationen zur Fachtagung finden Sie hier im Flyer:
Die seelische Gesundheit spielt eine zentrale Rolle in unserem Leben. Sie beeinflusst Emotionen, unser Denken, unsere Handlungen und unsere Beziehungen. Dennoch bleiben psychische Belastungen und Erkrankungen oft im Verborgenen und werden nicht ausreichend besprochen. Die 8. Aktionswochen der seelischen Gesundheit im Landkreis Rostock möchten diesem Tabu entgegenwirken und das Bewusstsein für die psychische Gesundheit stärken.
Die Veranstaltungsreihe bietet eine einzigartige Gelegenheit, Menschen aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen – von Expert*innen und Fachleuten bis hin zu Betroffenen, Angehörigen und Interessierten. Gemeinsam möchten die Veranstalter*innen Barrieren abbauen, Stigmatisierung überwinden und einen wertschätzenden, verständnisvollen Austausch fördern. Dazu finden eine Vielzahl von Veranstaltungen, die Aspekte der seelischen Gesundheit abdecken. Mit Vorträgen über Themen wie Selbstfürsorge, Sucht und Burnout-Prävention sowie kreativen Workshops und sportlichen Aktivitäten bieten die 8. Aktionswochen der seelischen Gesundheit eine facettenreiche Auswahl an Angeboten an. Darüber hinaus öffnen verschiedene Einrichtungen im Landkreis Rostock ihre Türen und stellen ihre Unterstützungsangebote vor.
Alle Veranstaltungen und Angebote sind kostenfrei. Weitere Informationen finden Sie hier im Programm und in der Programmübersicht.
In den letzten Jahren haben Anschläge oder Angriffe von radikalisierten und psychisch beeinträchtigten Personen immer wieder für Aufsehen gesorgt. Dabei war zunächst häufig unklar, ob die Beweggründe eher im ideologischen Extremismus oder einer psychischen Erkrankung zu suchen waren. Tatsächlich sind die Übergänge häufig fließend und beide Bereiche können sich wechselseitig beeinflussen. Dies erschwert die Diagnose der Ursachen und Motive sowie die Auswahl passender Unterstützungs- und Beratungsangebote. Gehört ein Fall in den Gesundheitsbereich oder sind die Beratungsstellen der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit und der Deradikalisierung gefordert?
Angesichts der Schnittmengen zwischen diesen Bereichen will die Fachtagung für einen multiprofessionellen Ansatz werben und lädt dazu ein, die Kooperation und den Dialog zwischen Sozial- und Gesundheitsberufen, Beratungsstellen der Extremismusprävention, Ämtern und Behörden sowie weiterer Akteur*innen auszubauen: Wer hat dabei welche Rolle? Welche Akteur*innen sollten in einer Fallkonferenz einbezogen werden? Welche Verfahrenswege müssen vereinbart werden, um die Zusammenarbeit zu verbessern?
Die Fachtagung verfolgt einen phänomenübergreifenden Ansatz. Neben den langjährigen Erfahrungen aus der Rechtsextremismus- und Islamismusprävention werden die Erfahrungen aus der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern einbezogen. Nicht zuletzt sollen neben der Arbeit an konkreten Fällen auch Fragen der allgemeinen Prävention und Resilienzstärkung erörtert werden: Wie lassen sich erste Zeichen einer Radikalisierung oder einer psychischen Beeinträchtigung erkennen? Wie können Risiken minimiert werden? Welche Hilfsangebote können die Regelstrukturen unterbreiten?
Veranstaltet wird die Tagung vom Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. und der Landeskoordinierungsstelle für Demokratie und Toleranz in der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern. Eingeladen sind Fachkräfte aus der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung sowie aus der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, Mitarbeitende von Beratungsstellen und Präventionsprojekten, Akteurinnen und Akteure aus den Bereichen (Schul-)Sozial- und Jugendarbeit, Mitarbeitende von Sicherheitsbehörden und weitere Interessierte aus Mecklenburg-Vorpommern.
Die Teilnahme an der Fachtagung ist kostenlos. Genaueraue Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier im Flyer:
Psychosoziale Fachpersonen sind gefordert, Bindungserfahrungen zu verstehen und Beziehungen zu gestalten, um individuelle Entwicklung und soziale Einbettung zu ermöglichen. Psychosoziale Beratungsprozesse sind eng an das Gelingen professioneller Bindungs- und Beziehungsgestaltung gebunden. Für die Gestaltung des sozialen Beziehungsrahmens bedarf es unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven und professioneller Handlungskompetenzen in der psychosozialen Beratung.
Am 13. Oktober 2023 veranstaltet die Arbeitsgemeinschaft: Interdisziplinäre Bindungsforschung im Dialog mit psychosozialer Praxis (AGB) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen den Fachtag „Bindung in der psychosozialen Beratung“. Die AGB hat sich zum Ziel gesetzt, Theoriekonstrukte und Forschungsbefunde aus dem bindungs- und beziehungstheoretischen Bereich in Zusammenarbeit mit der Praxis anregend aufzubereiten und zu verbreiten. Dementsprechend wurde ein abwechslungsreiches Programm für den Fachtag konzipiert, das einen interdisziplinären Theorie-Praxis-Transfer in die jeweiligen Arbeitsfelder unterstützen soll. Die Beiträge und Workshops bieten jeweils Anlass und Raum zur vertieften Diskussion. In den verschiedenen psychosozialen Arbeitsfeldern wie psychosoziale Beratung, aufsuchende psychosoziale Arbeit, Unterstützung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, Familienberatungsstellen, systemische Therapie oder Frühpädagogik werden die Bedeutung und Wirkung von Bindungs- und Beziehungsarbeit mit zahlreichen Fachexpert*innen näher herausgearbeitet.
Die Teilnahme ist kostenfrei.
Das Programm können Sie unten als PDF einsehen. Weitere Informationen zur Veranstaltung und Anmeldung finden Sie hier.
Suchterkrankungen oder der schädliche Konsum und Missbrauch von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen sind in Deutschland weit verbreitet. Vor allem die Abhängigkeit von Medikamenten und substanzungebundene Suchterkrankungen wie Spiel-, Internet- und Mediensucht haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Nach dem Bundesministerium für Gesundheit sind in Deutschland etwa 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig. Schätzungen legen nahe, dass 2,3 Millionen an einer Medikamentenabhängigkeit leiden. Rund 600.000 Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen auf. Hinzukommen ca. 500.000 Menschen mit einem problematischen oder sogar pathologischen Glücksspielverhalten. Eine exzessive Internetnutzung mit abhängigen Verhalten wird in Deutschland bei etwa 560.000 Menschen geschätzt.
Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass der Prävention und der Behandlung von Suchterkrankungen in Deutschland ein großer Stellenwert zukommt. Unter dem Motto “Suchthilfe – Quo Vadis?!” findet deshalb in diesem Jahr die 29. Rostocker Aktionswoche gegen Suchtgefahren statt. An der Veranstaltungsreihe beteiligen sich zahlreiche Akteur*innen aus Mecklenburg-Vorpommern und der Hanse- und Universitätsstadt Rostock. Vom 18. bis 22. September 2023 wird das Thema Sucht in verschiedenen Aktions- und Informationsveranstaltungen sowie Fachtagungen aufgegriffen. Dabei wird ein breites Spektrum an Themen wie Selbsthilfemöglichkeiten bei Suchtproblematiken, Sucht und Suizidalität oder die Fetale Alkoholsprektrum-störung aufgegriffen.
Das Programm mit weiteren Informationen zur Anmeldung und zu den Terminen kann hier heruntergeladen werden.
Am 14. Juni 2023 fand in Linstow das 2. Projektforum Kinder aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien statt. Etwa 160 Fachkräfte aus ganz Mecklenburg-Vorpommern, Potsdam, Hamburg und vielen anderen Regionen in ganz Deutschland haben am diesjährigen Projektforum teilgenommen. Nach einem kurzen Einblick in die Thematik stellte die Landesfachstelle: Kinder aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien Mecklenburg-Vorpommern ihre Aktivitäten und Vorhaben vor. Danach konnten die Teilnehmenden eines von vier Leuchtturmprojekten für die Unterstützung von Kindern aus Familien mit einem psychisch und/oder suchtbelasteten Elternteil kennenlernen. Über dem hinaus konnten sich die Teilnehmenden in Workshops austauschen und gemeinsam Ideen für die Unterstützung dieser Zielgruppe entwickeln.
Die Pflege, Unterstützung und Behandlung von Menschen in psychosozialen Notlagen erfolgten in der DDR unter dem Einfluss eines staatlich gelenkten Fürsorgesystems. Lange Zeit galten das Sozial- und Gesundheitssystem der DDR als Vorzeigeerrungenschaft des Sozialismus. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wird die politische Einflussnahme auf die soziale und gesundheitliche Versorgung in der DDR in vielen gesellschaftlichen Bereichen kontrovers diskutiert.
Mehrere Arbeitsgruppen in Deutschland unter anderem aus der Universitätsmedizin Rostock, der Universitätsmedizin Greifswald, der Alice Salomon Hochschule Berlin sowie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beschäftigen sich aktuell mit der historischen Aufarbeitung zur Sozial- und Gesundheitsversorgung in der DDR. Sowohl der staatliche Einfluss auf die dort tätigen Fachkräfte als auch die Auswirkungen auf die spätere Gesundheits- und Lebenssituation der Menschen – welche diese Angebote in Anspruch genommen haben – stehen dabei im Mittelpunkt.
Im Rahmen der Veranstaltung „Seelische Gesundheit in der DDR – Hilfe, Verwahrung, Missbrauch“ stellten am 23. Juni 2023 die einzelnen Arbeitsgruppen ihre aktuellen Erkenntnisse in Rostock einem breiten Publikum vor. Die kostenlose Veranstaltung fand im Hörsaal des Zentrums für Nervenheilkunde der Universitätsmedizin Rostock statt. Eingeladen waren alle Interessierten, die sich über den aktuellen Stand der DDR-Aufarbeitung informieren wollten. Während der Pausen gab es die Möglichkeit mit den Forscher*innen bei einem kleinen Imbiss im gemütlichen Kaminzimmer der Universitätsmedizin Rostock ins Gespräch zu kommen.
Die Eröffnung und Begrüßung der Veranstaltung erfolgte über Prof. Dr. Hans J. Grabe (Universitätsmedizin Greifswald), der die Teilnehmenden als Moderator durch die gesamte Veranstaltung führte. In ihren Grußworten wiesen Steffen Bockhahn (Senator für Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule, stellv. Oberbürgermeister), Prof. Dr. Bernd Krause (Prodekan und stellv. Dekan der Universitätsmedizin Rostock) und Anne Drescher (Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur) auf die Notwendigkeit der historischen Aufarbeitung im Bereich der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung in der DDR hin. So gab es einerseits in der ehemaligen DDR viele engagierte Mitarbeitende und Institutionen im Sozial- und Gesundheitswesen, die zum Wohle der Klient*innen und Patient*innen handelten. Anderseits gibt es Hinweise, dass aufgrund politischer Einflussnahme Missstände und Missbrauch in den jeweiligen Einrichtungen verdeckt oder die Entwicklung der Versorgung negativ beeinflusst wurden. Bei vielen Betroffenen wirkte sich dies nachhaltig auf die spätere Gesundheits- und Lebenssituation aus. Erst im Zuge der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit wurden diese Zusammenhänge langsam deutlich.
Historische Forschung zur Psychiatrie in der DDR
Im Bereich der Psychiatrie gab Prof. Dr. Ekkehardt Kumbier (Universitätsmedizin Rostock) einen Einblick zum aktuellen Stand der historischen Forschung in der DDR. Im Rahmen des Forschungsverbundes „Seelenarbeit im Sozialismus“ beforscht er seit 2019 mit mehreren Kolleg*innen aus der Universitätsmedizin Rostock und Greifswald mittels Befragung von Zeitzeugen und der systematischen Auswertung von archivierten Texten und Veröffentlichungen die Rolle der Psychiatrie in der DDR sowie den Einfluss der SED-Diktatur auf die psychiatrische Versorgung. So entstand neben mehreren Buchpublikationen im Rahmen dieses Projektes in der Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Institutionen eine umfangreiche Literaturdatenbank zur Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie und zum Gesundheitswesen in der DDR, die frei im Dokumentenserver der Universität Rostock eingesehen werden kann.
In seinem Vortrag wies er daraufhin, dass ähnlich wie in Westdeutschland die Entwicklung der Psychiatrie in der DDR zwischen 1945 und 1949 stark durch die Kriegsfolgen beeinflusst war. Personalmangel, zerstörte und zweckentfremdete Kliniken, Flüchtlingsbewegungen und eine schlechte materielle Grundausstattung beherrschten den Alltag der Psychiatrie. Erste Bemühungen die psychiatrische Versorgung weiterzuentwickeln und neu zu organisieren fanden in den darauffolgenden Jahrzehnten unter anderem im Rahmen der Rodewischer Thesen (1963) oder der Brandenburger Thesen (1974) statt, die den Aufbau einer modernen gemeindepsychiatrischen Versorgung, eine Öffnung gegenüber internationalen Einflüssen und eine Liberalisierung der Psychiatrie beinhalteten. Trotz dieser öffentlichen Impulse kam es in der Praxis nur in wenigen Regionen zur Umsetzung dieser Ziele. Die Gründe hierfür waren fehlende finanzielle und personelle Möglichkeiten aufgrund der wirtschaftlichen Gesamtsituation der DDR. Ebenso verhinderten die staatliche Einflussnahme (zum Beispiel im Zuge eines Verbots von statistischen Veröffentlichungen im Zusammenhang mit Suiziden und Alkohol in den psychiatrischen Institutionen), der fehlende politische Wille und die verhärteten Strukturen eine flächendeckende Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung in der DDR.
Prof. Dr. Ekkehardt Kumbier
In seinem Vortrag wies er daraufhin, dass ähnlich wie in Westdeutschland die Entwicklung der Psychiatrie in der DDR zwischen 1945 und 1949 stark durch die Kriegsfolgen beeinflusst war. Personalmangel, zerstörte und zweckentfremdete Kliniken, Flüchtlingsbewegungen und eine schlechte materielle Grundausstattung beherrschten den Alltag der Psychiatrie. Erste Bemühungen die psychiatrische Versorgung weiterzuentwickeln und neu zu organisieren fanden in den darauffolgenden Jahrzehnten unter anderem im Rahmen der Rodewischer Thesen (1963) oder der Brandenburger Thesen (1974) statt, die den Aufbau einer modernen gemeindepsychiatrischen Versorgung, eine Öffnung gegenüber internationalen Einflüssen und eine Liberalisierung der Psychiatrie beinhalteten. Trotz dieser Impulse und zahlreichen Fachveranstaltungen kam es in der Praxis nur in wenigen Regionen zur Umsetzung dieser Ziele. Die Gründe hierfür waren fehlende finanzielle und personelle Möglichkeiten aufgrund der wirtschaftlichen Probleme der DDR. Aber auch die staatliche Einflussnahme (zum Beispiel im Zuge eines Verbots von statistischen Veröffentlichungen im Zusammenhang mit Suiziden und Alkohol in den psychiatrischen Institutionen), fehlender politischer Wille und die verhärteten bürokratischen Strukturen verhinderten es die psychiatrische Versorgung in der DDR flächendeckend weiterzuentwickeln.
Dr. Kathleen Hack
In dem darauffolgenden Vortrag von Dr. Kathleen Haack von der Universitätsmedizinen Greifswald und Rostock, die ebenfalls im Forschungsverbund „Seelenarbeit im Sozialismus“ aktiv ist, wurde deutlich, dass die DDR nicht gleich DDR ist. So gab es in vielen psychiatrischen Versorgungsregionen unterschiedliche Entwicklungen und Arrangements mit den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Am Beispiel des Reformpsychiaters Klaus Weise rekonstruierte sie in Leipzig, dass es durchaus möglich war, Entwicklungen in der DDR jenseits und diesseits von politischen Vorgaben voranzutreiben. Allerdings ließen sich diese Entwicklungen nur im Rahmen von individuellen Möglichkeiten und persönlichen Netzwerken realisieren.
Maite Gabriel & Prof. Dr. Silke B. Gahleitner
Erfahrungenin DDR-Kinderheimen Bewältigung und Aufarbeitung
Vor der Pause berichteten Prof. Dr. Silke B. Gahleitner und Maite Gabriel von der Alice Salomon Hochschule Berlin aus einem Teilprojekt des Forschungsverbundes Testimony (Erfahrungen in DDR-Kinderheimen Bewältigung und Aufarbeitung) über die Erfahrung und Bewältigung ehemaliger Heimkinder in der DDR. Hierzu interviewten sie ehemalige Heimkinder über ihre Erlebnisse. Über alle Heimeinrichtungen hinweg berichteten die Befragten über physische, psychische und sexualisierte Gewalterfahrungen. Viele der Befragten zogen sich zurück und schwiegen über die Gewalterlebnisse. Die Folgen der Gewalterfahrungen im späteren Leben umfassten ein umfangreiches Spektrum von Schuld- und Schamgefühlen sowie physischen, soziökonomischen und sozialen Folgeerscheinungen. Erst durch die gesellschaftliche Aufarbeitung und langsam fortschreitende Anerkennung der damaligen Missstände entwickelten die Betroffenen alternative Formen der Bewältigung (Selbsthilfe, Schreiben, Sprechen, Auseinandersetzung mit der Biografie und den damaligen Missständen). Aufgrund der Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Anerkennung und den individuellen Bewältigungsversuche machten die beiden Referentinnen auf die Notwendigkeit einer bereiten Unterstützung der Betroffenen aufmerksam, die sowohl gesellschaftliche, rechtliche als auch mediale Aspekte aufgreift. Die aktuellen Unterstützungsmöglichkeiten wie Psychotherapie, Beratung oder finanzielle Entschädigung sind in diesem Kontext noch zu hochschwellig, um die Betroffenen bei der Bewältigung zu unterstützen.
Nach der Pause stellte Frau Priv.-Doz. Dr. Felicitas Söhner von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein weiteres Teilprojekt des Forschungsverbundes Testimony vor. In ihrem Projekt ging es um die Perspektive von Mitarbeitenden aus den ehemaligen Heimeinrichtungen der DDR. Im Rahmen von Interviews mit Fachkräften aus der Psychologie, Medizin und Pädagogik ging sie unter anderem den alltäglichen Abläufen und Erfahrungen, fachlichen Handlungskompetenzen und dem Umgang mit schwierigen Situationen oder traumatisierten Klient*innen im professionellen Alltag nach. Auch hier gab es sehr heterogene Äußerungen der ehemaligen Fachkräfte zu den Erlebnissen und Erfahrungen in den Heimen. Einige Fachkräfte berichteten über die Bedeutung der Heime als wichtigen Schutzraum und das Gewalt gegenüber den Klient*innen durch das Personal allgemein stark sanktioniert wurde. Andere Fachkräfte berichteten über verschiedene Formen der Gewalt wie physische Gewalt, psychische Gewalt, soziale Isolation oder körperlichen Zwang durch das Personal als auch unter den Klient*innen. Oftmals empfanden die Befragten eine geringe Handlungsfähigkeit, um die Gewalthandlungen von Kolleg*innen in den Heimeinrichtungen zu unterbinden. So gab es keine institutionellen Unterstützungs- oder Beratungsmöglichkeiten. Zudem fehlte es allgemein an personeller Ausstattung. Besonders verdeckte Formen der Gewalt waren schwer zu unterbinden und in den Heimeinrichtungen zu kontrollieren. Viele der Fachkräfte reagierten auf diese Situation mit Resignation, Schweigen, suchten das Gespräch mit den Betroffenen oder wechselten die Einrichtungen beziehungsweise orientierten sich beruflich um. Trotz der unterschiedlichen Deutungsmuster weisen die Ergebnisse darauf hin, dass es in der ehemaligen DDR auf der strukturellen und institutionellen Ebene viel zu wenig Möglichkeiten gab, um Missbrauchs- und Gewaltvorfälle in den Heimen durch das Personal zu unterbinden.
Dr. Felicitas Söhner
Selbstorganisierte Resilienzbildung und die psychische Gesundheit von ehemaligen Wochenkrippenkindern in der DDR
Ausgehend von der Rostocker Längsschnittstudie, die seit 1970 bis heute die Entwicklung von 207 Familien untersucht, beschäftigte sich Priv.-Doz. Dr. Olaf Reis von der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universitätsmedizin Rostock mit dem intergenerationalen Familienwandel und der Resilienzbildung bei Familien seit der Wende. In Interviews mit ostdeutschen Familien und in seinem Buch “Nischen im Wandel” arbeitete er heraus, dass der familiäre Umgang mit der DDR in den Familien unterschiedlich verlief. So gab es Familien (verbundene Familien) deren Mitglieder sich systemnah verhielten und die Werte der DDR annahmen. Andere (balancierte) Familien nutzen zwar die institutionellen Möglichkeiten der DDR ohne deren Werte jedoch vollständig zu übernehmen. Zudem gab es (separierte) Familien, welche sich gänzlich dem staatlichen System verweigerten und dadurch oftmals staatliche Sanktionen erlitten. Das spezifische Verhältnis zwischen diesen drei Familientypen und der Staatsgesellschaft bezeichnete Olaf Reis als Nischen, die im Kontext der damaligen gesellschaftlichen Bedingungen resilienzfördernde Eigenschaften hatten. Im Zusammenhang mit den Veränderungen und Belastungen durch die Wende, gelang es nach der Analyse von Olaf Reis vor allem balancierten Familien sich an den neuen Herausforderungen anzupassen, die transgenerationalen Verbindungen zu stabilisieren und ihre Resilienz aufrechtzuerhalten.
Dr. Olaf ReisEva Flemming
Zum Abschluss stellte Eva Flemming von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock ihre Studie zur Bindung und psychischen Gesundheit von ehemaligen Wochenkrippenkindern vor. Bei den Wochenkrippen handelte es sich um Einrichtungen, welche auf dem ehemaligen Gebiet der DDR zwischen den 1950er und 1990er Jahren eine durchgängige Betreuung von Kleinkindern ab dem Alter von 6 Lebenswochen ermöglichten. Vor allem Familien mit Eltern in Schichtarbeit, alleinerziehende Familien und Studierende nahmen dieses Angebot in der ehemaligen DDR in Anspruch. Bereits mehrere Studien aus den 1960er Jahren wiesen auf ungünstige Entwicklungsverläufe von Kindern in Wochenkrippen hin, die umso negativer verliefen, je mehr Zeit die Kinder von ihren Eltern isoliert waren. Trotz dieser Erkenntnisse hielt die DDR an dem Konzept der Wochenkrippen bis zur Wende fest. Die aktuelle Rostocker-Studie untersucht bei ca. 250 ehemaligen Wochenkrippenkindern den allgemeinen psychischen Gesundheitszustand und das Bindungsempfinden. Die Daten werden mit Personen aus der Allgemeinbevölkerung verglichen. Bereits jetzt ergaben die vorläufigen Studienergebnisse mit einer Teilstichprobe von 80 Wochenkrippenkindern erhöhte negative Werte bei allen getesteten Variablen (Stresserleben, körperliche Beschwerden, psychische Erkrankungen und Beeinträchtigungen). Darüber hinaus berichteten die ehemaligen Wochenkrippenkinder im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung über vermehrte Schlafstörungen sowie Schwierigkeiten im Aufbau von Bindung zu den eigenen Kindern.
Neben den Fachvorträgen kam es während der Tagung und in den Pausen zu vielen Diskussionen und Gesprächen zwischen den Teilnehmenden und den Referent*innen. Durch das Engagement der Forscher*innen ist es gelungen in den verschiedenen Bereichen den aktuellen Stand der DDR-Aufarbeitung differenziert darzustellen. Trotz der abwechslungsreichen und informativen Vorträge wurde ebenfalls deutlich, dass es gerade im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland noch viele Fragen gibt und die DDR-Aufarbeitung im Bereich des Sozial- und Gesundheitssystems noch in den Anfängen steckt. Im Namen der Veranstalter*innen bedanken wir uns bei allen Referent*innen und Teilnehmenden für die gelungene Veranstaltung und den angenehmen Austausch. Die Präsentationen der Veranstaltung sind hier zu finden:
In diesem Jahr findet am 25., 26. und 27. September 2023 die diesjährige Fachtagung der Aktion Psychisch Kranker e.V. in Berlin statt. An den ersten beiden Tagungstagen (25. und 26. September) werden die “Perspektiven der psychiatrischen Krankenhäuser – Mit und ohne Bett”dargestellt und diskutiert. Im Fokus stehen unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen in der Krankenhausreform folgende Themen:
Konzepte und Strategien zur Weiterentwicklung der Behandlungsqualität
Konzepte und Lösungswege für eine entsprechende Personalbemessung bzw. -entwicklungen, Finanzierungssystematiken und Krankenhausplanung
Wege und Konzepte für mehr Ambulantisierung und Flexibilisierung
Personenzentriertes Versorgungsmanagement und die Kooperation im Gemeindepsychiatrischen Verbund
Patienten- und menschenrechtliche Perspektiven in Bezug auf Partizipation, Selbstbestimmung, Zwangsvermeidung und Beschwerdemanagement
Krankenhausbehandlung und (medizinische) Rehabilitation und Teilhabe
Der Fachkräftemangel und notwendige Transformationen werden zudem als Querschnittsthematik im Fokus stehen.
Am dritten Tagungstag (27. September) wird in Kooperation mit dem Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG) und weiteren Selbsthilfeorganisationen ein Selbsthilfefachtag zum Thema “Prävention und Selbstfürsorge”stattfinden. Thematische Schwerpunkte werden sein:
Bedeutung von primärer und sekundärer Prävention
Perspektiven der beteiligten Selbsthilfeorganisationen
mögliche und bereits praktizierte Beiträge von Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfeinitiativen im Sinne der sekundären Prävention (Selbstfürsorge)
Verhältnis von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
Zusammenarbeit der Angehörigen und der Professionellen in der Prävention
Weitere Informationen zur Tagung und zum Programm finden Sie hier.
Verständnis für die Situation von sogenannten „Systemsprenger*innen“, „High Utilizer“ entwickeln
Am 11. Juli 2023 veranstaltet der Paritätische Gesamtverband in Berlin das Kolloquium “Passt nicht gibt’s nicht! Gemeinsam Perspektiven für junge Menschen mit hohem Hilfebedarf und herausforderndem Verhalten entwickeln”. Gemeinsam mit Selbstvertreter*innen und Paritätischen Kolleg*innen aus Jugendhilfe, psychiatrischen Hilfen und Suchthilfe soll arbeitsfeldübergreifend ein gemeinsames Verständnis für die Situation von sogenannten „Systemsprenger*innen“, „High Utilizer“ vor dem Hintergrund der eigenen professionellen Haltung entwickelt werden. Hierbei werden auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit an den Schnittstellen der jeweiligen Arbeitsfelder genauer in den Blick genommen und Perspektiven für eine Weiterentwicklung der Angebote entwickelt.
Auch der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. beteiligt sich im Rahmen eines Workshops zum Thema “Beziehungen gestalten und leben” mit Frank Hammerschmidt und Karsten Giertz am Kolloquium.
Weitere Informationen zum Programm und zur Veranstaltung finden Sie hier.
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