Rückblick Landesweite Gedenkveranstaltung “ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN” 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg

Der 27. Januar gilt als internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust sowie als nationaler Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Seit 2008 steht dieser Tag auch im Zeichen der Opfergruppe der Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie geistigen und körperlichen Behinderungen, die im Rahmen der T4-Aktionen in der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht oder dauerhaft geschädigt wurden. Mehr als 300.000 Menschen mit psychischen und anderen Erkrankungen und Behinderungen kamen während der NS-„Euthanasie“ ums Leben und mehr als 400.000 Menschen wurden Opfer von Zwangssterilisierungen.

Kranzniederlegung in Alt Rehse

In trialogischer Zusammenarbeit veranstaltet der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. seit 2008 gemeinsam mit verschiedenen regionalen Kooperationspartner*innen und Akteur*innen die Landesweite Gedenkveranstaltung „ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN” in Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen in Mecklenburg-Vorpommern in der Zeit des Nationalsozialismus.

In diesem Jahr fand die Landesweite Gedenkveranstaltung in Kooperation mit dem Dietrich-Bonheoffer-Klinikum Neubrandenburg, dem Verein „Das Boot“ Wismar e.V., dem Verein EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e.V., der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V., dem Gemeindepsychiatrischen Verbund Mecklenburgische Seenplatte, dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V. in Alt Rehse und Neubrandenburg statt.

Alt Rehse – ein Ort mit wechselvoller Geschichte

Bereits 2019 wurde eine Landesweite Gedenkveranstaltung in Alt Rehse veranstaltet. Aufgrund der besonderen Geschichte dieses Ortes im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik griffen die Organisator*innen in diesem Jahr Alt Rehse erneut neben Neubrandenburg als Veranstaltungsort auf.

Religiöse Andacht in der Dorfkirche Alt Rehse

Der kleine Ort Alt Rehse befindet sich direkt in der Nähe von Neubrandenburg am Tollensesee. 1934 ging der Ort an den Nationalsozialistischen Ärztebund, der auf Verlangen der Reichsärzteführung dort die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ errichtete. Mehr als 10.000 Mediziner, Hebammen und Apotheker nahmen in dem zum Musterdorf umgebauten Ort von 1935 bis 1941 an ideologischen Schulungen teil. Die Seminare lehrten die Vorrangigkeit der Volksgesundheit vor der Gesundheit des Einzelnen sowie die völkische Blut- und Boden-Ideologie. Auf dem Lehrplan standen Themen wie “Rassenhygiene”, “Erbgesundheit” und “Der nationalsozialistische Arzt”. Ziel war es, eine medizinische Elite auszubilden, die die unmenschliche Ideologie der Nazis mit Überzeugung vertrat. Viele von ihnen waren später an Verbrechen wie der Zwangssterilisation und systematischen Ermordung von Menschen mit psychischen, körperlichen und geistigen Behinderungen beteiligt. Nach dem Nationalsozialismus wurde das Gelände rund um Alt Rehse unter anderem als Fortbildungsstätte für Lehrer*innen in der DDR oder als Erholungsstätte genutzt. Heute ist Alt Rehse als Tagungs- und Urlaubsort bekannt.   

Kranzniederlegung in Alt Rehse

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus fand in der Dorfkirche von Alt Rehse eine religiöse Andacht mit Pastor Hartmuth Reincke von der Kirchengemeinde Penzlin – Mölln statt. Im Anschluss ging die EX-IN Erfahrungsexpertin Undine Gutschow in ihrer Lesung auf das Schicksal der Opfer der NS-„Euthanasie“ und ihren hinterbliebenen Angehörigen ein.  

Veranstaltung zur Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in Neubrandenburg

Nach der öffentlichen Kranzniederlegung auf dem Gelände der Dorfkirche von Alt Rehse ging es für die Teilnehmer*innen zur anschließenden Veranstaltung nach Neubrandenburg in den Konferenzsaal des Dietrich-Bonheoffer-Klinikums. Dort begrüßte Dr. Rainer Kirchhefer (Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Dietrich-Bonheoffer-Klinikums) die Gäste. In seinem Grußwort setzte er sich kritisch mit der Rolle der helfenden Professionen bei der Vorbereitung und Durchführung der NS-„Euthanasie“ im Nationalsozialismus auseinander. Zudem wies er auf die Bedeutung der Landesweiten Gedenkveranstaltung im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen hin. In vielen gesellschaftlichen Diskursen haben demokratiefeindliche Einstellungen, die Ausgrenzung von sexuellen, ethnischen oder religiösen Minderheiten, Anfeindungen gegenüber politisch Andersdenkende und die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen deutlich zugenommen. Die Landesweite Gedenkveranstaltung trägt dazu bei, ein Zeichen für Toleranz und Solidarität zu setzen sowie Rassismus und Demokratiefeindlichkeit gemeinsam entgegenzutreten.    

Dr. Rainer Kirchhefer bei der Begrüßung

Die Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. Sandra Rieck erinnerte in ihrem Grußwort an die Wegbegleiter*innen, die die Landesweite Gedenkveranstaltung seit 2008 aktiv mitprägten. Hierzu gehören unter anderem Käthe Schüler, Prof. Dr. Harald Freyberger und Prof. Dr. Klaus Dörner. In ihren Namen rief sie dazu auf, nicht nachzulassen, den Blick auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ zu richten und die Rolle der helfenden Professionen während der NS-Zeit  kritisch zu reflektieren. Sie forderte die Teilnehmenden auf, mit einer Haltung von Respekt und Toleranz gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Sinne der Menschenrechte und der UN-Behindertenkonvention zu gestalten und gegen alle Anfeindungen und Ausgrenzungen zu verteidigen.

Blick in den Konferenzraum

Christian Kaiser aus dem Verein EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e.V. setzte sich in seinem Grußwort mit der gegenwärtigen Behandlung- und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auseinander. Noch immer werden Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft stigmatisiert oder von wichtigen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen. Viele Betroffene sind trotz der UN-Behindertenrechtskonvention Zwangsmaßahmen und -behandlungen in der Psychiatrie ausgesetzt oder in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt. Zudem fehlt es in vielen Regionen an notwendigen Behandlungs- und Unterstützungsangeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Angehörigen. Allerdings können gegenwärtig aber auch viele positive Entwicklungen verzeichnet werden wie die Implementierung der Recovery-Orientierung in der psychiatrischen Behandlung, die Entwicklung der Selbsthilfe sowie die zunehmende Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der psychiatrischen Versorgung.

Der 1. stellvertretende Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg Peter Modemann bedankte sich bei den Organisator*innen für die Durchführung der Landesweiten Gedenkveranstaltung in Neubrandenburg. In seinem Grußwort gab er einen Überblick zur regionalen Gedenk- und Erinnerungskultur in Neubrandenburg. Er betonte wie wichtig diese Initiativen sind, um vor dem Hintergrund der NS-Geschichte rechtspopulistischen und antisemitistischen Entwicklungen in Deutschland entgegenzuwirken. Dabei wies er auf die Notwendigkeit hin, die Erinnerungs- und Gendenkkultur weiterzuentwickeln, um vor allem bei jüngeren Generationen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten.

Vortrag Dr. Martin Müller-Butz

In seinem Vortrag „Idylle, Ideologie und Verantwortung. Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse“ informierte Dr. Fabian Schwanzar (Geschäftsführer und Leiter der EBB Alt Rehse) zum aktuellen Stand der historischen Aufarbeitung um die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft und über die Aktivitäten der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte in Alt Rehse. Auf das Schicksal der polnischen Frauen im KZ-Außenlager Neubrandenburg ging Dr. Martin Müller-Butz von der Geschichtswerkstatt Zeitlupe der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V. ein. Am Beispiel der partizipativen und multimedialen Projektarbeit der Geschichtswerkstatt zeigte er auf, wie durch die direkte Einbeziehung von regionalen Akteur*innen bei der historischen Aufarbeitung und durch den Einsatz von aktivierenden künstlerischen Methoden, eine nachhaltige politische Bildungsarbeit umgesetzt sowie ein demokratieförderndes Geschichtsbewusstsein unterstützt werden kann. Zum Abschluss beschäftigte sich Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust (Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.) mit den Perspektiven, die sich aus der historischen Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ für die Gegenwart ergeben. Dabei machte sie darauf aufmerksam, dass es notwendig ist, sich als Gesellschaft frühzeitig klar gegen Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Hass zu positionieren, um den Einfluss von antidemokratischen, rechtsextremistischen und antisemitischen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft zu verhindern.

Beteiligte Organisator*innen, Referent*innen und Moderator*innen: Jeanne Nicklas-Faust, Fabian Schwanzar, Frank Hammerschmidt, Martin Müller-Butz, Antje Werner, Karsten Giertz, Sandra Rieck, Rainer Kirchhefer, Christian Kaiser, Peter Modemann (von links nach rechts).

Im Namen der Organisator*innen möchten wir uns nachträglich noch einmal bei allen Teilnehmenden und Referent*innen für die gelungene Veranstaltung bedanken. Einen Beitrag im NDR zur Landesweiten Gedenkveranstaltung 2024 finden Sie hier.

Landesweite Gedenkveranstaltung ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN am 27. Januar 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg

Wir freuen uns, Sie alle in diesem Jahr wieder zur Landesweiten Gedenkveranstaltung einladen zu dürfen.

Am 27.01.2024 Mal treffen wir uns in Alt Rehse, dem Ort mit einer besonders prägenden Geschichte für die Durchführung der menschenverachtenden NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen.

Auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern rufen wir zum 27. Januar, dem Nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und den Internationalen Holocaust-Gedenktag dazu auf, jetzt erst recht hinzuschauen und wachsam zu sein.

Wir erinnern dabei an Wegbegleiter, die unsere Gedenkveranstaltungen seit 2008 aktiv mit prägten und begleiteten: Käthe Schüler, Prof. Dr. Harald Freyberger und Prof. Dr. Klaus Dörner. Wir möchten Sie auch in deren Namen und Andenken dazu aufrufen, nicht darin nachzulassen, den Blick auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Geschichte der Profession der Helfenden zu richten. Heute ist es an uns, die Rahmenbedingungen mit ein einer stabilen Haltung von Respekt und Toleranz im Sinne der Menschenrechte und der UN-Behindertenkonvention zu gestalten und gegen alle Anfeindungen und Ausgrenzungen zu verteidigen.

„Nur wenn die „Euthanasie“-Toten uns ohne Unterlass an die stets offenen Wunden der Psychiatrie erinnern, sind sie vielleicht nicht umsonst gestorben.“ Prof. Dr. Klaus Dörner (1933 – 2022).

Weitere Informationen zum Programm und zu den Veranstaltungsorten finden Sie hier:

Themenheft zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll im Zusammenhang mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention die vollständige und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Deutschland ermöglicht werden. Seit 2017 unterliegt die Eingliederungshilfe durch das BTHG einem grundlegenden Wandel. Die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift Klinische Sozialarbeit beschäftigt sich mit den aktuellen Herausforderungen in der Umsetzung des BTHG speziell im Kontext der psychosozialen Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Im Fokus des Themenheftes stehen neben einem allgemeinen Überblick zum Umsetzungsstandes des BTHG die fachlichen Perspektiven und Chancen, die sich aus der Klinische Sozialarbeit für die psychosoziale Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Bereich der Eingliederungshilfe ergeben und die BTHG-Umsetzung fachlich unterstützen können.

Zu Beginn schauen Michael Beyerlein (Universität Kassel), Yvonne Kahl (Fliedner Fachhochschule Düsseldorf) und Felix Welti (Universität Kassel) auf die Rolle der Klinischen Sozialarbeit im Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe. Ausgehend von den aktuellen Erkenntnissen zur psychosozialen Versorgungssituation von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen beschäftigt sich Karsten Giertz (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.) mit den aktuellen Herausforderungen bei der Umsetzung von sozialraumorientierten Unterstützungsleistungen und zeigt mögliche Perspektiven für die psychosoziale Praxis auf. Lisa Große (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.) rückt die professionelle Beziehungsgestaltung bei der Bedarfsfeststellung und der Leistungserbringung in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zur rechtlichen Verankerung der Sozialraumorientierung und der personenzentrierten Bedarfsermittlung durch das Gesamtplanverfahren erfährt der Begriff der Beziehungsgestaltung im BTHG rechtlich keinerlei Beachtung. Aus ihrer Sicht ist die Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch Leistungen zur Förderung der Sozialen Teilhabe ohne den Fokus auf eine professionelle Beziehungsgestaltung nicht zielführend. In einem abschließenden Beitrag fassen Karsten Giertz und Ingo Müller-Baron (Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V.) den aktuellen Umsetzungsstand des BTHG in Deutschland zusammen. Im Bereich der Umsetzung des Gesamt- und Teilhabeplanverfahrens und bei den Leistungen zur Förderung der Sozialen Teilhabe zeigen sie fachliche Perspektive auf, die sich für die Klinische Sozialarbeit ergeben können.

Das Editorial, das Inhaltsverzeichnis und der Beitrag von Karsten Giertz und Ingo Müller-Baron können hier frei al PDF heruntergeladen werden.

Weitere Informationen zur aktuellen Ausgabe der Klinischen Sozialarbeit finden Sie hier.

Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Gesetzgebung: Leitfaden und Praxis

In den letzten Jahren wurde die psychische Gesundheit zunehmend als ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkannt. Viele Länder haben den Anspruch auf der Grundlage von internationalen Menschenrechtsstandards die psychische Gesundheit und das psychische Wohlbefinden in der Bevölkerung nachhaltig zu fördern. Zudem wird die Einführung von Gesetzen und Richtlinien thematisiert, die den Zugang zu qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und Unterstützung sowie das Recht von Menschen mit psychischen Erkrankungen nach Selbstbestimmung und Teilhabe garantieren. Zahlreiche Länder arbeiten daran, den Zugang zur psychiatrischen Versorgung zu verbessern, die Stigmatisierung und Diskriminierung von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung zu reduzieren und die partizipative Beteiligung von Personen mit Erfahrung in Rechtsreformprozessen und in der Gestaltung der Gesundheits- und Sozialpolitik zu fördern. Trotz des politischen Willens befinden sich die meisten Länder in einem frühen Reformstadium.

Um Länder besser in diesem Bereich zu unterstützen, hat die Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit dem Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Leitlinie „Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Gesetzgebung: Leitlinien und Praxis“ entwickelt. Die Leitlinien schlägt zahlreiche Empfehlungen für die Entwicklung und Umsetzung einer menschenrechtsbasierten Gesetzgebung im Bereich der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung vor. Darin werden unter anderem rechtliche Bestimmungen dargelegt, die erforderlich sind, um die Deinstitutionalisierung und den Zugang zu qualitativ hochwertigen, personenzentrierten und gemeindenahen psychiatrischen Gesundheitsdiensten zu fördern. Die Leitlinie zeigt auf, wie Gesetze Stigmatisierung und Diskriminierung bekämpfen können, und bietet konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Zwang in psychiatrischen Diensten zugunsten von Praktiken, die die Rechte und die Würde der Menschen respektieren.

Die Leitlinie enthält außerdem wichtige Informationen, wie bei der Überprüfung, Verabschiedung, Umsetzung und Bewertung von Gesetzen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit ein menschenrechtsbasierter Ansatz verfolgt werden kann. Hierzu stellt die Leitlinie eine praktische Checkliste bereit, mit der Länder beurteilen können, ob ihre Gesetze mit den aktuellen Menschenrechtsstandards übereinstimmen.

Der Leitlinie richtet sich in erster Linie an Gesetzgeber*innen und politische Entscheidungsträger*innen, die direkt an der Ausarbeitung, Änderung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung von Rechtsvorschriften zur psychischen Gesundheit beteiligt sind. Die Leitlinie ist aber auch für Einzelpersonen oder Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für jede Einrichtung im Bereich der psychischen Gesundheit, psychiatrischen und psychosozialen Versorgung von Interesse.

Weitere Informationen finden Sie hier.

Zweiter Staatenbericht des UN-Fachausschusses über die Rechte behinderter Menschen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 verpflichtet sich Deutschland alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen Grundfreiheiten und Menschenrechten erhalten. Dieser Prozess wird in regelmäßigen Abständen vom UN-Fachausschuss über die Rechte behinderter Menschen in einer Staatenprüfung begleitet und evaluiert. In Deutschland fand hierzu am 29. und 30. August 2023 die zweite und dritte Staatenprüfung statt. Im Vorfeld äußerten sich die freien Zivilgesellschaften und das Deutsche Institut für Menschenrechte in einem eigenen Parallelbericht zur Umsetzung der UN-BRK. Der UN-Fachausschuss veröffentlichte seinen abschließenden Bericht Anfang dieses Monats.

In dem Bericht wurden die aktuellen gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen begrüßt. Hierzu gehören unter anderem die Bundesinitiative Barrierefreiheit, das Bundesteilhabegesetz, die Reform des Vormundschaftsgesetzes für Kinder und Erwachsene oder auch das Gesetz Kinder- Jugendstärkungsgesetz.

Der Ausschuss äußerte sich jedoch besorgt über die diskriminierende Verwendung des medizinischen Modells zur Definition von Behinderung in vielen Rechtsbereichen auf Bundes- und Landesebene. Darüber hinaus werden fehlende strukturelle Möglichkeiten und Ressourcen für die aktive Beteiligung von Interessenvertretungen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen in allen sie betreffenden sozialpolitischen Angelegenheiten bemängelt. Zudem kritisiert der Ausschuss die unzureichende Menschenrechtsperspektive in den Aktionsplänen der einzelnen Bundesländer sowie die fehlende systematische Überprüfung der UN-BRK-Umsetzung. Auch mangelnde Strategien zur Förderung der Achtung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderungen sowie zur Förderung nachhaltiger Einstellungsänderungen in der Bevölkerung wurden in dem Staatenbericht angemahnt.

Mit großer Sorge betrachtet der Ausschuss die weitverbreiteten Zwangsunterbringungen, Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen bei Menschen mit Behinderungen aufgrund einer Beeinträchtigung in Einrichtungen der Pflege, Eingliederungshilfe, Psychiatrie und Forensik. Im Zusammenhang mit den Bestimmungen zur „Verhandlungsunfähigkeit“ ist der Ausschuss besorgt über die Möglichkeiten einer unbefristeten Inhaftierung von Menschen mit Behinderungen in forensisch psychiatrische Pflegeeinrichtungen. In diesem Kontext werden unabhängige Beschwerdestellen und Rechtsbehelfsmechanismen in Pflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen sowie in psychiatrische und forensische Einrichtungen gefordert. Der Staatenbericht macht außerdem auf die noch immer bestehende Segregation von Menschen mit Behinderungen in institutionelle Einrichtungen, auf das Fehlen von Maßnahmen zur Förderung der Deinstitutionalisierung und auf bestehende Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen Unterstützungsleistungen in Bezug auf ihren Wohnort frei wählen zu können aufmerksam. Im Bereich der medizinischen und psychosozialen Versorgung werden grundsätzlich fehlende Mechanismen zur Überwindung der gesetzlichen Fragmentierung des Versorgungssystems und zur Sicherstellung von umfassenden und personenzentrierten Behandlungs- und Rehabilitationsleistungen für Menschen mit Behinderungen bemängelt. Auch im Bereich Arbeit und Bildung ist es in den letzten Jahren noch nicht gelungen geeignete Rahmenbedingungen für ein inklusives Bildungssystem und einen inklusiven Arbeitsmarkt sowie geeignete Unterstützungsformen für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen und komplexen Unterstützungsbedarfen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu entwickeln und flächendeckend umzusetzen. So macht der Ausschuss unter anderem auf die immer noch bestehende hohe Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen, auf die hohe Zahl von Menschen mit Behinderungen im geschützten Beschäftigungs- und Bildungsbereich sowie auf die niedrigen Übergangsraten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aufmerksam.

Ausgehend von der Staatenprüfung formuliert der Fachausschuss für Deutschland eine Vielzahl an Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK. Zu den wichtigsten und nachdrücklichsten Empfehlungen gehören unter anderem:

  • Die Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, in den Umsetzungs- und Überprüfungsprozess der UN-BRK.
  • Die Entwicklung einer umfassenden Deinstitutionalisierungsstrategie mit konkreten Maßnahmen und der Freigabe von entsprechenden personellen, technischen und finanziellen Ressourcen sowie mit der Bestimmung von klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überprüfung.
  • Die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems und Arbeitsmarktes sowie die Verbesserung der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit der Freigabe von entsprechenden Ressourcen und der Bestimmung von klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überprüfung.  

Im Vergleich zum vorherigen Bericht des UN-Fachausschusses aus dem Jahr 2015 lassen sich in Deutschland bisher nur wenige wegweisende Entwicklungen bei der UN-BRK-Umsetzung beobachten. Es bedarf weiterhin auf sozialpolitischer und gesellschaftlicher Ebene zahlreiche Anstrengungen, um die vollständige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern und entsprechende Barrieren abzubauen. Als besondere Chance sind die aktuellen gesetzlichen und sozialpolitischen Maßnahmen anzusehen, welche zumindest erstmal formal dazu beitragen, dass sich die Rahmenbedingungen für die volle und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Zukunft verbessern. Einschätzungen zur konkreten Umsetzung und zu deren Auswirkungen auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen bleiben jedoch noch aus. Der vollständige Bericht der Staatenprüfung des UN-Fachausschusses zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland kann hier frei eingesehen werden.

Vielfalt ohne Alternative!!!

Es geht uns alle an.

Es ist mehr als ein Alarmzeichen. Wenn der AfD-Politiker Björn Höcke das Ende der Inklusion und damit die aktive Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung fordert, ist das kein Zufall und kein Ausrutscher.

In der AfD wird wiederholt gefordert, Menschen, die nicht in das Weltbild des völkischen Nationalismus passen, zu entrechten oder aus dem Land zu werfen. Wer so denkt und spricht, stellt die Würde des Menschen als Individuum, die Universalität von Menschenrechten und damit die Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaft in Frage.

Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung sind in der AfD längst zum Programm geworden, genauso wie die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer selbstbestimmten geschlechtlichen Identität.

Wir lassen nicht zu, dass Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen weiter Raum greifen, die an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte erinnern.

Wir rufen die Zivilgesellschaft auf, sich der Gefahr, die von einer solchen Agenda für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ausgeht, gemeinsam und entschlossen entgegenzustellen.

Es geht uns alle an.

Wir alle sind gefordert. Die Alarmzeichen sind nicht zu übersehen.

Menschenrechte jetzt! Gemeinsamer Parallelbericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet sich Deutschland alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen Grundfreiheiten und Menschenrechten erhalten. Dieser Prozess wird in regelmäßigen Abständen vom UN-Fachausschuss über die Rechte behinderter Menschen in einer Staatenprüfung begleitet und evaluiert. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen sind dabei aufgefordert über Parallelberichte diesen Prozess zu unterstützen und ihre Einschätzungen vorzulegen.

In diesem Monat veröffentlichte unter der Koordination des Deutschen Behindertenrates ein Bündnis deutscher Nichtregierungsorganisationen einen Parallelbericht zur Umsetzung der UN-BRK. Dabei kritisiert das Bündnis:

„Deutschland ist noch weit von einer umfassenden Umsetzung der UN-BRK entfernt. Nach wie vor ist Exklusion statt Inklusion für behinderte Menschen an der Tagesordnung. Zudem werden private Anbieter von Waren und Dienstleistungen immer noch nicht durchgehend zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet; an einer umfassenden Gewaltschutzstrategie zum Schutz von behinderten Mädchen und Frauen fehlt es ebenso, und selbst die schon lange geforderten Partizipationsstandards sind nicht in Sicht.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis ist sich einig, dass Deutschland noch weit von einer umfassenden Umsetzung der UN-BRK entfernt ist, so dass nach wie vor Exklusion statt Inklusion für behinderte Menschen an der Tagesordnung ist. Das betrifft unter anderem das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und das Gesundheitssystem.“

Insgesamt unterstützen 37 Organisationen den Parallelbericht, darunter Selbstvertretungsverbände von Menschen mit Behinderungen, Selbsthilfeverbände, die Sozialverbände sowie die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und die Fachverbände der Behindertenhilfe und Psychiatrie.

Der Bericht und weitere Informationen können hier eingesehen werden.

Parallelbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland

Kein Paradigmenwechsel trotz UN-BRK und eine fehlende Menschenrechtsperspektive in der Psychiatrie!!!

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet sich Deutschland alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen Grundfreiheiten und Menschenrechten erhalten. Dieser Prozess wird in regelmäßigen Abständen vom UN-Fachausschuss über die Rechte behinderter Menschen in einer Staatenprüfung begleitet und evaluiert. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen sind dabei aufgefordert über Parallelberichte diesen Prozess zu unterstützen und ihre Einschätzungen vorzulegen.

In diesem Monat veröffentlichte das Deutsche Institut für Menschenrechte als offizielle nationale Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-BRK seinen Parallelbericht. Neben den vielen positiven Entwicklungen wie Aktionsplänen zur UN-BRK-Umsetzung im Sozialrecht, Gleichstellungsrecht, Betreuungsrecht und Wahlrecht kritisiert der Bericht, dass die Umsetzungsdynamik im Bund, in den Bundesländern und Kommunen deutlich nachgelassen hat. Vor allem in den Bereichen Partizipation, Arbeit und Beschäftigung, inklusive Bildung, Vermeidung von Zwang und Selbstbestimmung bestehen erhebliche Handlungsbedarfe.

Nach 14 Jahren UN-BRK hat es laut dem Bericht keine wirklichen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zur Förderung der Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen gegeben. Des Weiteren kritisiert die Monitoring-Stelle in diesem Zusammenhang „eine fehlgeleitete Inklusionsrhetorik, wonach unterschiedliche Akteure aus Politik und Gesellschaft Sonderstrukturen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnen.“ Dadurch werden Doppelstrukturen flächendeckend und im Kern unverändert beibehalten.

 Zudem fehlen ein durchgängiges Bewusstsein für Barrierefreiheit sowie notwendige diskriminierungsrechtliche Verpflichtungen als Grundvoraussetzungen für die gleichberechtigte Teilhabe. Vor allem im Bereich der psychiatrischen Versorgung fehlt es laut dem Bericht an einer menschenrechtlichen Ausrichtung, an einer Orientierung am biopsychosozialen Modell und an der flächendeckenden Umsetzung der unterstützenden Entscheidungsfindung.

In der Gesamtschau kritisiert das Institut für Menschenrechte, dass Deutschland „bei Weitem nicht alles Notwendige und Mögliche unternimmt, um die Konvention umzusetzen. Die verfügbaren Mittel im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 UN-BRK wurden und werden nicht ausgeschöpft. Erneut vermisst die Monitoring-Stelle in den Berichten des Vertragsstaats im laufenden Prüfverfahren eine selbstkritische und vertiefte Auseinandersetzung mit bestehenden Problemen und Umsetzungsdefiziten.“

Der Bericht und weitere Informationen können hier eingesehen werden.

Sozialraumorientierung in der Zeitschrift „FORUM Sozialarbeit + Gesundheitswesen“

Mit der Einführung eines neuen Behinderungsbegriffes und den Leistungen zur Sozialen Teilhabe im Bundesteilhabegesetz nehmen sozialraumorientierte Unterstützungsformen in der Eingliederungshilfe zukünftig einen zentralen Stellenwert ein. Allerdings gibt es bis heute kein einheitliches Verständnis darüber, was der Sozialrum eigentlich genau bedeutet und wie sozialraumorientierte Unterstützungsmethoden in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit umgesetzt werden können.

Die Fachzeitschrift „FORUM Sozialarbeit + Gesundheitswesen“ der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. veröffentlichte ein lesenswertes Themenheft zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit. Die Zeitschrift enthält verschiedene Beiträge, welche sich mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung beschäftigen, konkrete sozialraumorientierte Konzepte und Unterstützungsformen in verschiedenen Bereichen der psychosozialen Arbeit wie Sozialpsychiatrie, Altenhilfe und Gesundheitsförderung vorstellen und dabei auf die aktuellen Herausforderungen und notwendige Rahmenbedingungen zur fachlichen Ausgestaltung von sozialraumorientierten Unterstützungsformen gerade im Bereich der Eingliederungshilfe eingehen.  

Weitere Informationen zur Ausgabe finden Sie hier.

Videovorlesungsreihe Anthropologische Psychiatrie zum Thema „Mensch bleiben – auch in seelischer Not!“

An der Universitätsmedizin Hamburg-Eppendorf veranstaltet Thomas Bock jährlich eine Vorlesungsreihe zur Anthropologischen Psychiatrie mit verschiedenen Schwerpunkten. Ziel der Vorlesungsreihe ist, ein menschliches Bild von psychischen Erkrankungen zu vermitteln, sie nicht auf die Abweichung von Normen oder die Folge entgleister Transmitter zu reduzieren. Anlässlich der COVID-19-Pandemie findet seit 2020 die Vorlesungsreihe in digitaler Form statt. Die Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation der Universität Hamburg mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Irre menschlich Hamburg e.V. und psychenet. Dabei engagieren sich zahlreiche Expert*innen und Psychiatrieerfahrene sowie Angehörige.

Im diesjährigen Sommersemester 2023 beschäftigte sich die Vorlesungsreihe mit dem Thema „Mensch bleiben – auch in seelischer Not!“. Im Mittelpunkt der Vorlesungsreihe stehen die Erfahrungen mit dem Hilfesystem. Dabei werden folgende Fragestellungen aufgegriffen: Welche Hilfen bieten die besten Chancen, möglichst wenig zu kränken und zu schaden? Welche orientieren sich am meisten an Ressourcen und Lebenszusammenhängen? Welche erlauben, uns als Menschen möglichst vollständig wahrzunehmen und tiefe Krisen möglichst wenig zu stigmatisieren? Wo und wie bleibt die Kontinuität zwischen gesund und krank prägend auch für die Beziehungskultur? Wie gelingt es besonders breite Brücken zu bauen zwischen Selbst- und Fremdhilfe?

Der Blick richtet sich auf stationäre, ambulante und aufsuchende Hilfen, auf die Herausforderung, Zwang zu vermeiden, fair zu besprechen und gut zu verarbeiten. Welche Maßnahmen stehen im Zentrum jeder Reform – aus der Sicht professioneller und persönlicher Erfahrung?

Die Vorlesungsreihe wurde nun als Videostream veröffentlicht und mit dem Einverständnis der Veranstalter*innen auf dieser Internetseite eingebettet. Unten können die einzelnen Vorlesungen als Videos angesehen werden.

Stationäre Behandlung: Milieutherapeutisch und beziehungsorientiert

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Dr. Martin Voss (Soteria Berlin) & Marie Hubert (Soteria-Erfahrene)

Das Milieu wird von einer gemeinsamen Alltagsgestaltung geprägt und soll möglichst wenig klinisch sein. Auch in einer akuten Krise soll eine kontinuierliche therapeutische Beziehung Halt geben und den Bedarf an neuroleptischer Medikation aus guten Gründen reduzieren helfen. “Being with, open dialogue” – was heisst das auf deutsch? Welchen Stellenwert und Nutzen haben Angehörige, welche Bedeutung hat Genesungsbegleitung? Warum profitieren besonders Psychose-Erfahrene? Was davon geht überall? Wie gelingt der Übergang ins ambulante Setting?

Ambulant: Bedürfnisnah und psychotherapeutisch – Psychosenambulanz München

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Roswitha Hurtz (Ambulanz für Psychosen-Psychotherapie, kbo Isar-Amper-Klinikum München) & Ina Pirk (Psychotherapeutin in Ausbildung, UKE)

Die wissenschaftlichen Empfehlungen sind ebenso eindeutig wie die Prioritäten von Betroffenen und Angehörigen. Trotzdem ist Psychosen-Psychotherapie längst nicht selbstverständlich. Eine Flexibilität und ergänzende Komplexbehandlung können nötig sein. Um so wichtiger ist, dass auch Klinikambulanzen diese Herausforderung annehmen. Viele reduzieren Kontaktdichte und –vielfalt. Wie ist das zu verhindern?

Aufsuchende Hilfen: selbstverständlich mit Genesungsbegleitung – Beispiel Lüneburg

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Michaela Frommhagen (Pflegeleitung Psychiatrische Klinik Lüneburg) & Christina Meyn (Genesungsbegleitung Psychiatrische Klinik Lüneburg)

Akutbehandlung muss nicht stationär erfolgen, für viele ist die Situation einer klassischen Station sogar überfordernd und falsch. Mit der “stationsäquivalenten Akutbehandlung” zuhause wurde eine Alternative rechtlich möglich, aber längst nicht überall umgesetzt. Genesungsbegleitung kann zusätzlich helfen, das Stigmarisiko zu reduzieren. Die positiven Erfahrungen schildern.

Verbindliche Zusammenarbeit: die Benachteiligten nicht allein lassen – mehrere Beispiele

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Matthias Rosemann (Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e.V.) & Bettina Lauterbach (Vorstandsmitglied Hamburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.)

Seit der Psychiatrie-Enquête vor fast 50 Jahren wird eine enge verbindliche Zusammenarbeit aller an der Versorgung psychisch erkrankter Menschen gefordert, vor allem um der Benachteiligung von Menschen mit komplexem Bedarf entgegenzuwirken. Kliniken haben meist feste Einzugsbereiche, viele anderen Anbieter der psychosozialen Versorgung aber nicht. Vielerorts dominieren privat- und markt-wirtschaftliche Interessen. Fehlanreize und mangelnde Steuerung vergeuden Ressourcen. Gerade unter den Bedingungen des Fachkräftemangels wird verbindliche Kooperation alternativlos. Wenn wirklich eine verbindliche Zusammenarbeit gelingt, hat das beeindruckend positive Konsequenzen – vor allem für die Benachteiligten. Welche Menschen sind es, die darauf am meisten angewiesen sind? Welche Rolle spielt die Forensik dabei? Wie schaffen wir Verbindlichkeit und lassen doch Freiheit? Wo brauchen wir die Politik?

Vermeidung von Zwang: Was noch ist notwendig – ein offener Diskurs

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Prof. Dr. Tilman Steinert (ZfP Weissenau), Prof. Dr. Sebastian von Peter (Rüdersdorf) & Gwen Schulz (Hamburg)

Zwangsmaßnahmen können nachhaltig (re)traumatisieren. Deren Rate ist in Deutschland erschreckend hoch, situativ und regional aber sehr ungleich. Der Unterschied hat nicht nur mit den Patienten, sondern vor allem mit Institutionen, mit Haltung und Strukturen zu tun. Was genau hilft Zwang zu vermeiden? Welche Beziehungskultur, welche „weichen Mittel“, welche Strukturen, welche politischen Entscheidungen? Die Herausforderung liegt nicht nur bei den Kliniken, schon gar nicht nur bei Akutstationen. Was können und müssen Regionen gemeinsam tun, um Fortschritte zu etablieren? Welche Unterstützung kann und muss die Politik liefern? Welche Reflexion der eigenen Rolle und des Auftrags der Psychiatrie ist hilfreich? Was passiert, wenn sich die Psychiatrie vom Zwang verabschiedet? Welche Probleme bringt zusätzlich der Fachkräftemangel? Mehr Gefängnis und Forensik können nicht die Lösung sein; doch ein gesellschaftlicher Diskurs zu den möglichen Alternativen tut bitter not.

Trialogischer Austausch zur Psychiatrie der Zukunft – Offener Dialog als Maßstab?

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Gwen Schulz (Genesungsbegleiterin), Marion Ryan (Angehörigen-Begleiterin) & Dr. Sabine Schütze (ehemalige Oberärztin und Open-Dialogue-Trainerin)

Wie soll die Psychiatrie der Zukunft aussehen? Sind die geschilderten Erfahrungen vorbildlich? Was noch ist wichtig, damit wir jenseits starrer Rollen „Mensch bleiben“ und Zwang unnötig machen? Welche Irrwege sind zu meiden? Wie kann die Psychiatrie attraktiver und offener werden – für Mitarbeiter:innen und für die, die sie am meisten brauchen? Wie entstehen mehr Raum und mehr Bereitschaft für das, was am Ende entscheidet, für menschliche Begegnung?