Videovorlesungsreihe Anthropologische Psychiatrie zum Thema Anthropologie von Gesundheit und Krankheit in der Psychiatrie

An der Universitätsmedizin Hamburg-Eppendorf veranstaltet Thomas Bock jährlich eine Vorlesungsreihe zur Anthropologischen Psychiatrie mit verschiedenen Schwerpunkten. Ziel der Vorlesungsreihe ist, ein menschliches Bild von psychischen Erkrankungen zu vermitteln, sie nicht auf die Abweichung von Normen oder die Folge entgleister Transmitter zu reduzieren. Anlässlich der COVID-19-Pandemie findet seit 2020 die Vorlesungsreihe in digitaler Form statt. Die Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation der Universität Hamburg mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Irre menschlich Hamburg e.V. und psychenet. Dabei engagieren sich zahlreiche Expert*innen und Psychiatrieerfahrene sowie Angehörige.

Im vergangenen Wintersemester 2022/2033 beschäftigte sich die Vorlesungsreihe mit der Anthropologie von Gesundheit und Krankheit in der Psychiatrie. Im Mittelpunkt der Vorlesungen stehen die zutiefst menschlichen Themen und Konflikte von verschiedenen psychischen Störungen wie Depression, Persönlichkeitsstörungen, Zwangs- oder Suchterkrankungen.

Depression – die Eigendynamik eines Schutzmechanismus

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Prof. Dr. Sönke Artl & Rolf Sieck

Depressionen gelten als Volkskrankheit. Sind sie deshalb typisch deutsch? Depressionen sind nicht zu verwechseln mit Trauer, eher ein Zustand der Fühllosigkeit – sind wir unfähig geworden zu trauern? Bis wann ist es ein Schutzmechanismus, nicht zu fühlen, ab wann eine Katastrophe? Welche Bedeutung hat der Verlust des Zeitgefühls? Welche Rolle spielen Belastungen bei der Arbeit und biographische Konflikte. Was hilft und was können wir präventiv tun? Wie gelingt die Balance von Beistand und Entlastung, von Ernst nehmen und Ermutigung?

Bipolar – besondere Spannweite von Stimmung und Antrieb

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Margrit Grötelüschen & Dr. Hans-Peter Unger

Wer aus der Depression auch die Flucht nach vorne ergreift, gilt als bipolar. Die Manie als Gegenpol kann kreativ und schillernd, aber manchmal auch beschämend und zerstörerisch sein. Sie kann den Weg aus der (depressiven) Überanpassung weisen, aber auch die nächste Depression vorbereiten? Was unterscheidet dieses Spannungsfeld von den Stimmungsschwankungen, die wir alle kennen? Ist unser Zeitgefühl entscheidend? Können wir vorher und nachher noch unterscheiden? Wir brauchen ein Gegenüber, um uns zu spiegeln, zu halten, zu begrenzen. Wir brauchen Hilfen, die nicht kränken, die niedrigschwellig und kontinuierlich zur Verfügung stehen, die nahe Angehörige selbstverständlich einbeziehen. Ein starkes Plädoyer für mehr Engagement der PsychotherapeutInnen in Kooperation mit Psychiatrischen Institutsambulanzen und Peer-Support.

Persönlichkeitsstörungen – Wer stört wen warum?

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Dr. Ewald Rahn & Dr. Christiane Tilly

Wir möchten uns unterscheiden, Eigenheit bewahren. Wir sprechen von akzentuierten Persönlichkeiten und von Persönlichkeitsstörungen? Wo ist der Übergang, welche Rolle spielt der soziale Kontext? Was gilt es zu lernen von und für Menschen mit Borderline Erfahrung? Was steckt hinter den vordergründigen Konflikten, hinter Selbstverletzung und Suizidalität? Welche Rolle spielen traumatische Erfahrungen, welche die Ressourcen? Wie schaffen wir es, dass nicht die einen zu viel, die anderen zu wenig Hilfe bekommen? Die Diagnose steht infrage – auch weil wir es schaffen müssen, die persönlichen Konflikte wahrzunehmen und nicht bestimmte Muster zu verstärken. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) wurde von Marsha Linehan geprägt, die nach ihrer beruflichen Tätigkeit auch eigene Krankheitserfahrungen offen machte. Die Gesprächspartner plädieren für eine Ergänzung der DBT durch das Trainingsprogram STEPPS ( dt. “Erkennen von Emotionen und Problemlösen systematisch trainieren”), für den Vorrang ambulanter Strukturen und für mehr Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen – mit und ohne Diagnosen.

Sucht – eine Form von Suche und Versuchung?

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Dr. Martin Reker, Timo Schüsseler

Sucht ist verbreitet und vielfältig – kann auf Stoff oder Handeln bezogen sein. Es war ein Fortschritt, Sucht nicht mehr als Sünde oder Versagen, sondern als Krankheit zu begreifen; doch die Balance zwischen Abhängigkeit und Freiheit sowie zwischen maßvollem und maßlosem Handeln oder Begehren betrifft jeden Menschen. Anthropologisch haben Rauschzustände eine lange Geschichte; doch waren die möglicherweise früher stärker kulturell eingebunden. Was bedeutet das für die notwendige Vielfalt von Hilfen und Prävention. – Warum haben manche Menschen ein höheres Suchtrisiko als andere? Gibt es Beziehungserfahrungen und Arbeitsbedingungen, die vor Sucht bewahren oder hineintreiben können? Warum sollten Angehörige mehr einbezogen und Strukturen flexibel werden und Therapeuten weniger verurteilen und vollständiger wahrnehmen? Ein Plädoyer für mehr Individualität in der Suchthilfe und mehr Politik in der Prävention.

Angst als überlebenswichtige Fähigkeit / Zwang als Bewältigung?

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Prof. Lena Jelinek & Ralf

Angst ist eine überlebenswichtige Fähigkeit, Angstbewältigung die Basis jede/r Kultur oder Religion. Warum läuft sie manchmal aus dem Ruder? Rituale können Ängste bändigen. Vielleicht bietet unsere Kultur inzwischen zu wenig davon. Greifen wir deshalb auf Zwänge zurück? Wann und warum wird aus dem Schutzmechanismus ein Gefängnis? Welche Rolle spielt Psychotherapie? Ergänzen sich die Schulen? Bewegen sie sich aufeinander zu? Welche Rolle spielt, dass Existenzängste heute berechtigter sind denn je? Wie können wir konstruktiv umgehen mit unserer Angst um die Natur, den Frieden, die Solidarität, unsere Gemeinschaft, um die Welt? Wird die Unterscheidung von gesunder und kranker Angst dann sinnlos?

Psychose – eine besondere Form der Dünnhäutigkeit

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Prof. Dr. Andreas Heinz & Gwen Schulz

Unsere Haut kann durchlässig werden, so dass innere Dialoge zu äußeren werden und reale Bedrohungen / Informationen uns filterlos (be)treffen. So reagieren wir in Psychosen oft schneller nicht nur auf vermeintliche, sondern auch auf reale Gefahren – fast wie Seismographen. Was bedeutet das angesichts der aktuellen Bedrohung der Welt? Zugleich erscheinen Psychosen wie ein Ringen um Selbstverständlichkeit und wie ein Zustand, in dem plötzliche Nähe und Enge bedrohlich wirken kann. Wir brauchen dann für unsere existentielle Versicherung ein Gegenüber, brauchen Beziehungen, die uns spiegeln, halten, zugleich Raum für Autonomie und ein konstruktives therapeutisches Milieu. Wie schaffen wir eine Beziehungs- und Behandlungskultur, die weniger Angst macht, weniger Stigma fördert, Eigen-sein sichert, ohne Schutz zu vernachlässigen? Egal in welchem Setting – ambulant, stationär und aufsuchend zuhause? Welchen besonderen Stellenwert haben Psychotherapie und Genesungsbegleitung?

Mehrwert doppelter Erfahrung – trialogischer Rückblick

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Gwen Schulz, Dr. Sabine Schütze & Marion Ryan

Mit diesem trialogischen Rückblick endet die Vorlesungsreihe zum Thema „Mensch-Sein“. Gemeinsam schauen wir auf allen Themen, ergänzen z.B. die Angehörigenperspektive, suchen nach Gemeinsamkeiten, z.B. den großen Gewinn, den Menschen mit Doppelerfahrung in den Diskurs und in die Versorgung einbringen. Wir plädieren gemeinsam dafür, dass überall in der Psychiatrie psychosozialen Versorgung GenesunsbegleiterInnen und Angehörigen-BeraterInnen beschäftigt werden. Unsere abschließende Reflexion erinnert auch daran, dass diese Vorlesungsreihe insgesamt lange im größten Hörsaal der Uni Hamburg stattfand und viele Menschen auch wegen der spannenden trialogischen Diskussion kamen.

Fachtagung “Zwischenmenschliche Beziehungen und Gesundheit” am 15. und 16. Juni 2023 in Coburg

Menschsein heißt mit anderen verbunden und auf andere angewiesen zu sein. Wir sind immer in Beziehung – in unseren Gedanken, mit unseren Wünschen, Hoffnungen und Gefühlen – selbst, wenn gerade niemand anwesend ist. Daher sind zwischenmenschliche Beziehungen in jedem Lebensalter und jeder Entwicklungsstufe von hoher Bedeutung für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die soziale Teilhabe von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und hochbetagten Menschen.

Klinische Sozialarbeit zielt als gesundheitsbezogene Fachsozialarbeit wesentlich darauf ab, das soziale Eingebundensein von Menschen zu fördern und zu stärken. Gleichzeitig begegnen Fachkräfte dabei besonderen Herausforderungen, denn es geht um isolierte und marginalisierte Menschen mit tiefen Beziehungserschütterungen und -traumatisierungen, die wiederholt Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen machen mussten.

Unter dem Motto „Zwischenmenschliche Beziehungen und Gesundheit – Sozialtherapeutische Beziehungen und Gesundheit“ findet am 15. und 16. Juni an der Hochschule Coburg die 12. Fachtagung Klinische Sozialarbeit statt. Mit der Tagung feiert die Hochschule Coburg den 20. Geburtstag der Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule zum gemeinsamen berufsbegleitenden Masterstudiengang Soziale Arbeit: Klinische Sozialarbeit. Die Fachtagung möchte zur Diskussion und Vernetzung einladen und einen lebendigen Diskurs rund um die Bedeutung naher, zwischenmenschlicher Beziehungen für die Gesundheit anregen. Gleichzeitig werden sozialtherapeutische Konzepte und Ansätze vorgestellt und kritisch beleuchtet. Dabei sollen auch hochaktuelle gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (wie z. B. der pandemiebedingte Digitalisierungsschub) aufgegriffen werden.

Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier.

S3-Leitlinie Borderline-Persönlichkeitsstörung

Jährlich erkranken 1 bis 2 % der Menschen in Deutschland zwischen dem 18. und 60. Lebensjahr an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Dies umfasst rund 1 Million Menschen in Deutschland. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch eine schwere Störung der Emotionsregulation, schwere impulsive Verhaltensweisen und instabile Beziehungsmuster.

In der psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung zählen Betroffene mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu einer häufig anzutreffenden Gruppe von Klient*innen und Patient*innen. Obwohl mehrere Langzeitstudien hohe Remissionsraten bei den störungsspezifischen Symptomen nahe legen, weisen viele der Betroffenen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zahlreiche Beeinträchtigungen in den Bereichen psychosoziales Funktionsniveau, somatische Gesundheit, berufliche und soziale Integration auf, welche sich zumeist als sekundäre Erkrankungsfolgen darstellen und negativ auf die Lebenszufriedenheit und gesellschaftliche Teilhabe auswirken. Ein wesentlicher Faktor bei dieser Entwicklung ist die prekäre Versorgungssituation der Betroffenen im ambulanten und komplementären Bereich. Der Großteil der Behandlung findet im Rahmen von kurzfristigen stationären Kriseninterventionen statt. Dies macht deutlich, dass es bisher nur unzureichend gelungen ist, diese Gruppe angemessen in den außerklinischen Bereichen zu versorgen.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) veröffentlichte im November 2022 erstmals eine S3-Leitlinie zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, die zahlreiche wissenschaftlich evaluierte Behandlungsempfehlungen beinhaltet, welche von 23 Fachgesellschaften empfohlen und zusammengetragen wurden. Neben Empfehlungen zur Früherkennung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, welche sich meist im frühen Jugendalter herausbildet, empfiehlt die Leitlinie psychotherapeutische Behandlungsformen, die an die Besonderheiten der Borderline-Persönlichkeitsstörung angepasst sind und das soziale Umfeld mit einbeziehen.

Die Leitlinie kann hier auf der Internetseite der DGPPN heruntergeladen werden.

Beitrag zur Versorgungssituation von wohnungslosen Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Zeitschrift Sozialmagazin

Menschen, die über keinen eigenen Wohnraum verfügen oder in unverhältnismäßigen Wohnsituationen leben, sind eine der extremsten Formen von sozialer Exklusion ausgesetzt. In den letzten Jahren hat das Phänomen Wohnungslosigkeit aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignissen wie zum Beispiel fehlender bezahlbarer Wohnraum, soziökonomische Segregation, Flüchtlingsbewegungen oder Klimakatastrophen in Deutschland an Bedeutung gewonnen. So berichten die aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. über eine deutliche Zunahmen von Menschen, welche Unterstützungsangebote der Wohnungslosenhilfe beanspruchen.

Vor allem wohnungslose Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen gehören dabei zu einer Zielgruppe, die oftmals nicht von den bestehenden Beratungs-, Behandlungs- und Unterstützungsangeboten profitiert. Im Gegensatz zu anderen angloamerikanischen Ländern wurde hierzulande die psychische Gesundheits- und Versorgungssituation von wohnungslosen Menschen mit psychischen Erkrankungen lange Zeit marginalisiert und in den Diskursen der Wohnungslosenhilfe sowie psychiatrischen und psychosozialen Versorgung nur selten thematisiert.

Im Rahmen eines Beitrages für die Zeitschrift Sozialmagazin beschäftigte sich Karsten Giertz (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.) mit der aktuellen Lebens-, Gesundheits- und Versorgungssituation von wohnungslosen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ausgehend von den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Deutschland diskutiert der Autor spezifische Herausforderungen in der sozialarbeiterischen Unterstützung und macht auf die Bedeutung von Beziehungs- und Netzwerkarbeit in der Integration von wohnungslosen Menschen mit psychischen Erkrankungen aufmerksam.

Der Beitrag kann hier neben weiteren interessanten und lesenswerten Artikeln zum Thema Beziehung in der Sozialen Arbeit auf der Seite der aktuellen Ausgabe des Sozialmagazins erworben werden.

Kostenloses Fortbildungsangebot “Stärkenorientierte Fallberatung in der sozialpsychiatrischen Praxis”

Kostenloses Fortbildungsangebot “Stärkenorientierte Fallberatung in der sozialpsychiatrischen Praxis”

In den letzten Jahren wurde im Zusammenhang mit zahlreichen gesetzlichen Reformen, Leitlinien und Empfehlungen eine recovery-, ressourcen- und stärkenorientierte Perspektive in der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung verankert. In der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung ist jedoch oftmals noch unklar, wie die individuellen Stärken und Ressourcen von Klient*innen für den Behandlungs- und Unterstützungsprozess konkret nutzbar gemacht werden können.

Zur Unterstützung der Mitarbeitenden in der Praxis bietet auch in diesem Jahr der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. gemeinsam mit Prof. Dr. Corinna Ehlers das kostenlose Online-Fortbildungsangebot der stärkenorientierten Fallberatung an drei Terminen an. Die Fallberatung ist ein Unterstützungsangebot für Mitarbeitende in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung. Im kollegialen Austausch können Haltungen reflektiert, (komplexe) Fallsituationen analysiert und die Anwendung von Methoden und Instrumenten erprobt werden. Zu Beginn jeder Sitzung erfolgt eine kurze inhaltliche Einführung und im Anschluss werden ausgewählte Instrumente anhand von Fallbeispielen – die die Teilnehmer*innen einbringen – angewendet und besprochen.  Die Teilnehmer*innen können vor allem die Treffen nutzen, um sich praxisnah auszutauschen, voneinander zu lernen und so ihre Professionalität zu stärken.  

Die kostenlose Fallberatung richtet sich an Mitarbeitende aus den Mitgliedseinrichtungen des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die Termine und weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier im Flyer:

Eine kurze allgemeine Einführung in die Theorien und Methoden der stärkenorientierten Praxis im Kontext der qualifizierten Assistenz finden Sie hier in einem Buchbeitrag von Corinna Ehlers und Karsten Giertz. 

Beitrag “Der Preis der Psychotherapie – Argumente für eine Wiederbelebung der sozialen Perspektive im psychotherapeutischen Denken und handeln” im Psychotherapie Forum

Psychotherapie findet nicht in einem neutralen, werte- und herrschaftsfreien Raum statt, sondern bildet gesellschaftliche Strukturen und Prozesse ab. Sie ist Teil gesellschaftlichen Handelns. Die Flucht- und Migrationsbewegungen als auch die Corona-Pandemie – sowie die Politiken im Umgang mit diesen Phänomenen – verstärkten in den letzten Jahren das Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Bewegungen bzw. die Polarisierung und Radikalisierung von Gesellschaften. Die Fachzeitschrift Psychotherapie Forum beschäftigt sich daher in der Dezember-Ausgabe mit den Fragestellungen: (Wie) Beeinflussen Gesellschaften die Psychotherapie, die Rollen der Psychotherapeut*innen sowie die psychotherapeutische Praxis? (Wie) Beeinflusst Psychotherapie die Gesellschaft/en? 

Hierzu setzte sich unter anderem die Autor*innengruppe um Silke Brigitta Gahleitner (Alice Salomon Hochschule), Karsten Giertz (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.), Cornelia Caspari (Kreisklinik Ebersberg), Peter Caspari (IPP München) und Heiner Keupp (IPP München) in ihrem Beitrag Der Preis der Psychotherapie – Argumente für eine Wiederbelebung der sozialen Perspektive im psychotherapeutischen Denken und Handeln mit der Verdrängung der gesellschaftlichen und psychosozialen Perspektive in der psychotherapeutischen Versorgung durch die Einführung der Richtlinienpsychotherapie in Deutschland, der eindimensionalen Diagnostik durch die ICD ohne Einbeziehung von wichtigen Konzepten wie Lebenswelt, Sozialraum und Ressourcenorientierung sowie der starren Fixierung auf Effektivitätsnachweisen nach RCT-Modellen kritisch auseinander. Gerade Patient*innen mit komplexen psychischen Problemlagen werden durch diese Entwicklungen von der psychotherapeutischen Versorgung nur marginal erfasst. Im Anschluss diskutieren sie notwendige Veränderungen innerhalb der Praxis und Profession der Psychotherapie.

Darüber hinaus enthält die Ausgabe weitere lesenswerte Beiträge, die sich mit dem Einfluss von gesellschaftlichen Entwicklungen auf die Psychotherapie aber auch mit der gesellschaftlichen Rolle von Psychotherapie kritisch auseinandersetzen. Alle Artikel können als PDF hier frei eingesehen werden.

Ankündigung digitale Fachtagung “Kooperation und Netzwerke in der psychosozialen Arbeit” am 11. Mai 2023

Zahlreiche Klient*innen in der psychosozialen Versorgung weisen häufig einen sehr komplexen Unterstützungsbedarf auf. Benötigt wird daher nicht selten auch ein komplexes Unterstützungssystem. Zudem weisen viele Forschungsergebnisse darauf hin, dass gerade multiprofessionelle und systemübergreifende Formen der Versorgung zur Personen- und Bedarfsorientierung beitragen. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Etablierung einer vernetzten Versorgung mit vielen Hürden verbunden ist. So erschweren finanzielle Rahmenbedingungen, gesetzliche Fragmentierungen des Versorgungssystems, professionsbezogene Anerkennungskonflikte und abweichende Logiken zwischen den beteiligten Berufsgruppen oftmals eine personenzentrierte und bedarfsgerechte Planung und Umsetzung von psychosozialen Unterstützungsmöglichkeiten.  

Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. veranstaltet in Kooperation mit dem European Centre for Clinical Social Work e.V., der Hochschule Coburg, der Fachhochschule Campus Wien, dem Verein EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e.V., der Landeskoordination: Kinder aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien Mecklenburg-Vorpommern und dem Netzwerk A: aufklaren | Expertise und Netzwerk für Kinder psychisch erkrankter Eltern des Trägers Paritätische Hamburg am 11. Mai 2023 zwischen 09:00 bis 16:00 Uhr die digitale Fachtagung „Kooperation und Netzwerke in der psychosozialen Arbeit”. Die Fachtagung richtet sich an Mitarbeitende aus den verschiedenen Arbeitsfeldern der psychosozialen Praxis, an Studierende sowie an Wissenschaftler*innen aus den Bereichen der Sozial- und Gesundheitswissenschaften. Die Anmeldung und Teilnahme sind kostenlos. 

Im Rahmen der Fachtagung können noch Vorträge mit dem Schwerpunkt „Kooperation und Netzwerke in der psychosozialen Arbeit” eingereicht werden. Zudem bietet die Fachtagung die Möglichkeit auch Vorträge zu neuen Forschungsprojekten, Erkenntnissen aus aktuellen Studien, Methoden oder Interventionsformen in der psychosozialen Versorgung einzureichen. Besonders hervorzuheben ist die Möglichkeit für Nachwuchswissenschaftler*innen Posterpräsentationen für die Fachtagung zu gestalten. Bei Interesse können ab sofort bis zum 31. März 2023 kurze Abstracts für Vorträge oder Posterpräsentationen eingereicht werden. 

Informationen zur Fachtagung und zu den Einreichungen finden Sie hier in der Ankündigung als PDF.

Das finale Tagungsprogramm und die Anmelde- und Zugangsmodalitäten werden zwischen März und April 2023 auf dieser Internetseite und über das European Centre for Clinical Social Work e.V. veröffentlicht.

Neuer Durchgang der Fortbildungsreihe “Methoden der qualifizierten Assistenz” 2023

Neuer Durchgang der Fortbildungsreihe “Methoden der qualifizierten Assistenz” 2023

Durch die Einführung des Bundesteilhabegesetzes verändert sich die psychosoziale Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Angehörigen im Bereich der Eingliederungshilfe grundlegend. Neue methodische Ansätze und fachliche Konzepte sind gefragt, um Menschen mit psychischen Erkrankungen im Rahmen von qualifizierten Assistenzleistungen zu begleiten und in ihrer sozialen Teilhabe zu fördern. 

Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. bietet im nächsten Jahr hierzu wieder das Weiterbildungsangebot „Methoden der qualifizierten Assistenz“ an, das sich an alle Mitarbeitenden richtet, die im Bereich der Eingliederungshilfe Leistungen zur sozialen Teilhabe für Menschen mit psychischen Erkrankungen erbringen. Aufbauend auf den bisherigen Erfahrungen und dem bestehenden Fachwissen der Teilnehmenden werden neue Methoden und Konzepte zur Umsetzung qualifizierter Assistenzleistungen vorgestellt und praxisnah vermittelt. 

Dauer: 8 Seminare jeweils von 09:00 bis 17:00 Uhr

Inhalte:

  • Aktuelle Bedarfe in der sozialen Teilhabe von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen
  • Einführung Bundesteilhabegesetz
  • Qualifizierte und kompensatorische Assistenzleistung
  • Capability Approach
  • Biopsychosoziales Modell von psychischer Krankheit und Gesundheit
  • Die ICF und die ICF Score Sets in der Praxis
  • Recovery, Salutogenese, Resilienz, Ressourcen- und Stärkenorientierung in der qualifizierenden Assistenz
  • Theoretische Grundlagen und Anwendung der psychosozialen Diagnostik
  • Grundlagen professioneller Beziehungsarbeit
  • Methoden der Angehörigen-, Netzwerk- und Sozialraumarbeit
  • Methoden der unterstützenden Entscheidungsfindung
  • Strategien im Umgang mit spezifischen Arbeitsbelastungen

Kosten: Mitglieder des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. 800 Euro, Externe Träger und Einrichtungen 950 Euro

Weitere Informationen finden Sie hier im aktuellen Flyer:

Melden Sie sich gerne bei:

Karsten Giertz

Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.

Carl-Hopp-Str. 19a, 18057 Rostock

Telefon: 0381 – 873 942 30, E-Mail: Karsten.Giertz@sozialpsychiatrie-mv.

Der kleine Leitfaden zum Stimmenhören und ähnlichen Erfahrungen

Für Menschen, die es selbst nie erlebt haben, kann es schwierig sein, sich vorzustellen, wie es ist, Stimmen zu hören. Und es mag erstaunen, dass diese Erfahrung gar nicht so selten ist. Etwa 13,2 % aller Menschen geben an, mindestens einmal in ihrem Leben Stimmen zu hören. Ein Großteil von ihnen ist oder wird dennoch nicht krank.

Zahlreiche klinische Studien zeigen mittlerweile, dass Stimmenhören, Visionen und ähnliche Erfahrungen, egal in welcher Form, in sich selbst kein Zeichen einer bestimmten Erkrankung sind. Sie kommen in verschiedensten psychiatrischen Diagnosen vor, aber auch im Alltag, auf der Arbeit, in der Schule, beim Familientreffen. Es ist sogar so, dass die meisten Personen mit diesen Erfahrungen keine psychischen Probleme haben oder nie in Kontakt mit der Psychiatrie kommen. Trotz dem können Personen, die Stimmen oder ähnliche Erfahrungen wahrnehmen, dadurch verängstigt oder verunsichert werden. Auch Angehörige von Personen, die Stimmen hören, wissen oftmals nicht mit diesen Erfahrungen umzugehen.

Die Broschüre “Der kleine Leitfaden zum Stimmenhören und ähnlichen Erfahrungen” von Matthias Pauge, dem Netzwerk Stimmenhören Schweiz, Oana-Mihaela Iusco, Senait Debesay und Joachim Schnackenberg beschäftigt sich mit der Erfahrung des Stimmenhörens oder vergleichbaren Erfahrungen. Die Broschüre soll Menschen, die diese Erfahrungen machen und unter ihnen leiden, deren Angehörigen und Begleitpersonen, Unterstützung bieten.

Die Broschüre kann hier als PDF abgerufen werden:

Rückblick Landesweite Fachtagung Adoleszenzpsychiatrie 2022

Die Lebensphase der Adoleszenz geht bei vielen jungen Menschen mit wegweisenden Veränderungen und Entwicklungsaufgaben einher. Insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Erkrankungen kann dieser Lebensabschnitt zu einer besonderen Herausforderung werden. Denn neben den ohnehin mit dieser Phase verbundenen Entwicklungsaufgaben müssen die jungen Menschen zusätzlich die erkrankungsbedingten Belastungen bewältigen. Zudem haben viele der psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter ihren Ursprung in der Lebensphase der Adoleszenz. Dennoch ist die Behandlungs- und Versorgungssituation für junge Menschen mit psychischen Belastungen oder Erkrankungen neben unzureichenden psychiatrischen und psychosozialen Behandlungs- und Unterstützungsangeboten, fehlenden Angeboten zur Prävention und Frühintervention durch Schnittstellenprobleme und Beziehungsabbrüche aufgrund der formalen Altersgrenze von 18 Jahren geprägt.

Gemeinsam mit seinen Kooperationspartner*innen aus den Landkreisen Mecklenburgische Seenplatte und Vorpommern-Rügen beschäftigt sich der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. im Rahmen des vom Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport geförderten Modellprojektes „Adoleszentenpsychiatrie“ seit mehreren Jahren mit der Versorgungssituation von jungen Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen. Um auf die Situation von psychisch belasteten Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie auf notwendige Weiterentwicklungen in der Versorgung dieser Zielgruppe in Mecklenburg-Vorpommern aufmerksam zu machen, fand am 21. September 2022 im Bürgersaal Waren (Müritz) unter der Moderation von Prof. Dr. Andreas Speck (Hochschule Neubrandenburg) die Landesweite Fachtagung Adoleszenzpsychiatrie statt.

In ihrem Grußwort wies Sandra Rieck (Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.) darauf hin, dass insbesondere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus benachteiligten Familien, besonders gefährdet sind, im späteren Leben psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen ausgesetzt zu sein. Vor allem während der COVID-19-Pandemie wurde dies deutlich. Sie forderte die politischen Akteur*innen auf, entsprechende Rahmenbedingungen herzustellen, um die Unterstützung und Zukunftschancen von jungen Menschen aus sozialbenachteiligten Familien zu verbessern. Michael Löffler (Dezernent Jugend, Soziales, Gesundheit und Beigeordneter des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte) ging in seinem Grußwort auf die besondere Situation von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen ein.  Er bedankte sich beim Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport für die Finanzierung des Modellprojektes „Adoleszenzpsychiatrie“ sowie bei allen beteiligten Akteur*innen des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte, welche sich im Rahmen des Modellprojektes und der bestehenden regionalen Netzwerke, für die Belange von psychisch belasteten jungen Menschen engagieren. Zudem bedankte er sich bei den Verantwortlichen für die Organisation der Tagung.

Zum Einstieg in die Thematik berichteten die jungen Erwachsenen aus der Adoleszentengruppe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des MEDICLIN Müritz-Klinikums in einem selbstgedrehten Videofilm über den Umgang mit der eigenen Erkrankung. Im Anschluss kommentierten Jacob Müller in einem gemeinsamen Gespräch mit Mareike Heydenreich (Sozialdienstmitarbeiterin für Adoleszente in Röbel), den Videobeitrag. Dabei berichtete Jacob Müller über seine Lebensgeschichte und eigenen Behandlungserfahrungen. Er machte darauf aufmerksam, dass zu wenig Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung von Mecklenburg-Vorpommern bestehen. Oftmals sind junge Menschen abhängig von den herkömmlichen Angeboten der Erwachsenenpsychiatrie, in denen die altersspezifischen Bedarfe oftmals nicht berücksichtigt werden. Vor allem in der Unterstützung im Bereich Wohnen, Ausbildung und berufliche Rehabilitation bedarf es weiteren Entwicklungsbedarf in Mecklenburg-Vorpommern.

In seinem Fachvortrag ging Prof. Dr. Werner Freigang (Hochschule Neubrandenburg) auf die entwicklungsbedingten Herausforderungen in der Jugend- und Adoleszenzphase in der heutigen Gesellschaft ein. Durch Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse haben sich die gesellschaftlichen Strukturen differenziert, wodurch der Sozialisationsverlauf im Vergleich zu früheren Generationen allgemein einen längeren Zeitraum umfasst und das Erwachsenwerden deutlich schwieriger und komplizierter verläuft. Im Zusammenhang mit den durch die Modernisierung entstandenen Freiheiten zur Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung entstehen auch neue Risiken und Herausforderungen in der Sozialisation von jungen Menschen. Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien verfügen oftmals nicht über die notwendigen Ressourcen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Dadurch vermehren sich die sozialen Problemlagen insbesondere bei Familien in soziökonomisch schwächeren Regionen. Hier bedarf es mehr Engagement und Unterstützung durch die politischen Akteur*innen.

Prof. Dr. Michael Kölch

Prof. Dr. Michael Kölch (Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter in Rostock) setzte sich in seinem Vortrag mit den Besonderheiten von psychischen Erkrankungen in der Jugendphase auseinander. Altersspezifische Entwicklungsfaktoren wie die zunehmende Bedeutung der Peer-Gruppe, die Identitätsbildung, die Verselbständigung, das Gestalten eines eigenen sozialen Raums jenseits der Herkunftsfamilie spielen in den Entwicklungs- und Lernprozessen junger Patient*innen eine zentrale Rolle, welche mit dem 18. Geburtstag in der Regel nicht abgeschlossen sind und in der psychiatrischen Behandlung oftmals nicht die ausreichende Berücksichtigung finden. Aufgrund der altersbedingten Besonderheiten entstehen in diesem Altersabschnitt zusätzlich Schnittstellenprobleme zwischen den unterschiedlichen Versorgungssegmenten des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters sowie ein hohes Risiko von Therapieabbrüchen und fehlenden Behandlungsdiskontinuitäten. Die fehlende personenzentrierte Unterstützung und Behandlung oder allgemeine Unterversorgung steigert bei dieser Zielgruppe jedoch die Gefahr einer Chronifizierung der psychischen Erkrankungen und eines schlechteren Erkrankungsverlaufes sowie das Risiko für soziale Exklusionsprozesse durch sekundäre Erkrankungsfolgen wie fehlende Schul- und Berufsausbildung, komorbide somatische Erkrankungen oder soziale Desintegration. Um die Versorgungssituation junger Erwachsener mit psychischen Erkrankungen zu verbessern, bedarf es neben Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung einer stärkeren Sensibilisierung für die altersspezifischen Bedarfe junger Erwachsener in der psychiatrischen und psychosozialen Praxis durch Fortbildung und fachübergreifenden Austausch sowie der Entwicklung und Umsetzung von zielgruppenspezifischen und schnittstellenübergreifenden Angeboten.

Grafik Recording von Conny Bredereck (Alice Salamon Hochschule Berlin)

Nach einer kurzen Pause gab die Volljuristin Stefanie Ulrich (Constitutional Coaching) einen Überblick über die Chancen für die Unterstützung von jungen Erwachsenen im Übergang in das Erwachsenenalter durch die aktuellen gesetzlichen Reformprozesse im SGB VIII durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz  sowie in der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabgesetz. Sie verwies auf die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Sozialgesetzbücher (systemische Perspektive versus Personenzentrierung, pädagogische Schwerpunkte zur Förderung der sozialen Teilhabe versus personenzentrierte Organisation von Unterstützung zur Förderung der sozialen Teilhabe) hin und welche Schwierigkeiten sich dadurch in der Unterstützung von jungen Menschen gerade im Übergang in das Erwachsenenalter ergeben. Im Zuge der gesetzlichen Reformprozesse sollen die Verfahren und Zugänge bei der Gestaltung von übergreifenden Unterstützungsangeboten unter der Berücksichtigung der altersspezifischen Bedarfe angepasst und optimiert werden. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass viele der vom Gesetzgeber angestoßenen Entwicklungen in der Praxis oftmals noch nicht umgesetzt werden (z. B. Vereinfachung der Rehabilitationsverfahren, Teilhabeplanverfahren, Budget für Ausbildung). Dies hat zum Teil mit regionalen strukturellen Rahmenbedingungen und Unterschieden in der fachlichen Ausrichtung der Jugendämter und Sozialämter zu tun. Darüber hinaus bestehen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern unterschiedliche Teilhabebegriffe, welche sich juristisch nicht vereinheitlichen lassen und die Entwicklung von passgenauen Unterstützungsangeboten erschweren. Aus der Perspektive der Referentin sind daher regionale Netzwerke zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern wie Jugendamt und Eingliederungshilfe sowie Akteur*innen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung notwendig, um ein gemeinsames Verständnis bezüglich der Unterstützung von jungen Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen und bedarfsgerechten Angebote zu entwickeln.

Franziska Berthold, Dr. Antonia Kowe & Antje Werner

Nach den Fachvorträgen berichteten Antje Werner (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.), Dr. Antonia Kowe (Diakonisches Werk Mecklenburg-Vorpommern e.V.) und Franziska Berthold (GGP-Gruppe mbH) ausgehend von den Erfahrungen des vom Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport seit 2018 geförderten Modellprojektes „Adoleszenzpsychiatrie“ und von den Erkenntnissen aus der Praxis über die Versorgungssituation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Mecklenburg-Vorpommern. Hierzu gaben die Referentinnen einen Überblick zu den Zielen und Aktivitäten des Modellprojekts, das schwerpunktmäßig in den Landkreisen Mecklenburgische Seenplatte und Vorpommern-Rügen durchgeführt wurde. Neben einer allgemeinen Bestandsaufnahme des regionalen Bedarfs, der Entwicklung von Qualitätsstandards für die Umsetzung von passgenauen Hilfen, der Stärkung der regionalen Kooperation und Vernetzung, der Förderung der interprofessionellen Kooperation durch gemeinsame Fortbildungen, der Entwicklung eines Lebensordners zur Unterstützung von jungen Menschen mit psychosozialen Problemlagen bei der selbstbestimmten Lebensgestaltung, einer Buchpublikation, einer zielgruppenspezifischen Öffentlichkeitsarbeit zur Sensibilisierung der altersbezogenen Bedarfe und Herausforderungen von jungen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, wurde auch das Thema Prävention im Rahmen einer Landeskoordination des Präventionsprojektes „Verrückt? Na Und!“ im Modellprojekt aufgegriffen.

Durch das besondere Engagement aller Projektpartner*innen konnten bedeutsame Impulse in verschiedenen Handlungsfeldern gesetzt und nachhaltige regionale Strukturen zum Thema Adoleszenzpsychiatrie sowie zur Präventionsarbeit in den wichtigen Bereichen der Lebenswelt junger Menschen aufgebaut werden. Allerdings wurde auch deutlich, dass ein hoher Bedarf an Interventionen zur Früherkennung sowie an interprofessionellen und sektorenübergreifenden Unterstützungsangeboten für Adoleszente in Mecklenburg-Vorpommern besteht. In diesem Kontext fasste Dr. Antonia Kowe die Ergebnisse von Interviews mit Expert*innen in Mecklenburg-Vorpommern zusammen, welche in der psychosozialen Unterstützung von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen tätig sind. Nach Ansicht der Expert*innen bedarf es zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen zielgruppenspezifischer betreuter Wohnangebote, einer intensiveren Arbeit mit den Jugendlichen, einer längeren Betreuungszeit auch über das 18. Lebensjahr hinweg, Verbesserung in der institutionellen Zusammenarbeit (z. B. Jugendamt, Sozialamt, Jobcenter), einer effektiveren Zuständigkeitsklärung zwischen Jugendämtern und Sozialämtern insbesondere im Übergang, flexiblen Angeboten sowie speziellen Angebote zur Suizidprävention für diese Altersgruppe.

Während der Laufzeit des Modellprojektes „Adoleszenzpsychiatrie“ wurde deutlich, dass die jungen Menschen in ihrem durch das Bundesteilhabegesetz und das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz eindeutig formulierten Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe in dieser entscheidenden Lebensphase nur unzureichend unterstützt werden. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der sich durch die COVID-19-Pandemie zugespitzten Lage der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und der damit verbundenen erhöhten Risiken für psychische Belastungen alarmierend. Weiterhin gilt es vor allem für den ländlichen Raum, die Möglichkeiten und Chancen der Digitalisierung noch intensiver zu erproben und zu nutzen.

Neben den Fachinputs sowie den Ergebnissen und Erfahrungen des regionalen Modellprojektes „Adoleszentenpsychiatrie“ hatten die Teilnehmenden am Nachmittag die Möglichkeit sich mit weiteren Themen im Zusammenhang mit der Behandlung und Unterstützung von psychisch belasteten jungen Menschen im Rahmen eines World Cafés auszutauschen. Hierzu fanden sechs verschiedene Gesprächsrunden mit mehreren Expert*innen zu folgenden Themen statt, deren Ergebnisse zum Abschluss der Fachtagung in einem Plenum allen Teilnehmenden zusammenfassend vorgestellt wurden.

  • Thema 1:  Prävention psychischer Krisen und Förderung seelischer Gesundheit in der Schule: Lena Kriege (Diakonie Mecklenburgische Seenplatte gGmbH), Anke Wagner (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V.)
  • Thema 2: Früherkennung und Frühintervention: Antje Werner & Karsten Giertz (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.)
  • Thema 3: Kinder aus suchtbelasteten- und oder psychisch erkrankten Familien: Franziska Berthold & Dr. Kristin Pomowski (Landeskoordination Kinder aus psychisch und /oder suchtbelasteten Familien Mecklenburg-Vorpommern)
  • Thema 4: Behandlung und Therapie: Dr. Silke Korich (Oberärztin, Leitung Institutsambulanz, MediClin Müritz-Klinikum GmbH, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik)
  • Thema 5: Ganzheitliche Vorbereitung auf Leben und Beruf – Chancen und Grenzen: Denise Bender & Sally Heide (Berufsvorbereitende Tagesstätte der AWO Sozialdienst Rostock gGmbH)
  • Thema 6: Schwer erreichbare Adoleszente: Judith Keller (CHAMÄLEON Stralsund e.V., Chamäleon Akademie) & Prof. Dr. Werner Freigang (Hochschule Neubrandenburg)
Abschlussplenum mit den Ergebnissen aus den World Cafés

Die diesjährige Landesweite Fachtagung Adoleszenzpsychiatrie hat gezeigt, dass sich in vielen Regionen von Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche Akteur*innen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung für die besonderen Bedarfe von Jugendlichen und jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen engagieren. Aus den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Eingliederungshilfe, Schule und berufliche Rehabilitation oder Kinder- und Jugendhilfe waren zahlreiche Akteur*innen auf der diesjährigen Fachtagung vertreten. Das Thema Adoleszenzpsychiatrie wurde in vielen Regionen von Mecklenburg-Vorpommern aufgegriffen und entsprechende Behandlungs- und Unterstützungsangebote für diese Zielgruppe entwickelt. Insbesondere im Zusammenhang mit der Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderung durch den demographischen Wandel, sind bildungs-, sozial- und gesundheitspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der Zukunftschancen von jungen Menschen mit psychosozialen Problemlagen und aus sozialbenachteiligten Familien eine wichtige, wenn nicht sogar notwendige Voraussetzung.

Ungeachtet dieser positiven Entwicklungen wurden ausgehend von den Ergebnissen des Modellprojektes „Adoleszenzpsychiatrie“ aber auch ausgehend von den Fachvorträgen und Tagungsdiskussionen notwendige Weiterentwicklungsbedarfe sichtbar. Um die Versorgungssituation speziell von jungen Menschen mit psychischen Belastungen und Erkrankungen zu verbessern, bedarf es neben Maßnahmen der Prävention, Gesundheitsförderung und Früherkennungen, der Entwicklung und dem weiteren Ausbau von altersspezifischen Beratungs-, Behandlungs- und Unterstützungsangeboten zusätzlich auf der sozialpolitischen Ebene weiterer Bemühungen. Die Fachtagung konnte zeigen, dass vor allem im Zusammenhang mit der Umsetzung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes und des Bundesteilhabegesetzes sowie in der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe bisher in Mecklenburg-Vorpommern noch keine geeigneten strukturellen Rahmenbedingungen bestehen, um junge Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen und Belastungen in ihrer sozialen Teilhabe angemessen zu unterstützen.

Um weitere Anreize für eine Verbesserung der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Familien zu schaffen, veröffentlichten Antje Werner, Karsten Giertz und Prof. Dr. Michael Kölch mit der Unterstützung von zahlreichen Expert*innen aus Mecklenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern im Nachgang der Fachtagung im Psychiatrie Verlag das Fachbuch “Adoleszenzpsychiatrie: Teilhabechancen für junge Menschen in Klinik und Gemeinde“, das neben fachlichen Grundlagen zahlreiche Erfahrungen aus verschiedenen innovativen Modellprojekten zur Versorgung und Behandlung von adoleszenten Patient*innen beinhaltet und wichtige Impulse sowie Fragestellungen aus der Fachtagung aufgegriffen hat. Weitere Informationen zum Buch und zu den Autor*innen sind hier zu finden. Der Flyer zum Buch kann hier als PDF abgerufen werden:

Im Namen der Vorbereitungsgruppe und Veranstalter*innen bedanken wir uns bei allen Referent*innen, Teilnehmenden und Kooperationspartner*innen für die gelungene Tagung und den interessanten Austausch. Die Präsentationen zu den einzelnen Vorträgen finden Sie hier: