Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 verpflichtet sich Deutschland alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen Grundfreiheiten und Menschenrechten erhalten. Dieser Prozess wird in regelmäßigen Abständen vom UN-Fachausschuss über die Rechte behinderter Menschen in einer Staatenprüfung begleitet und evaluiert. In Deutschland fand hierzu am 29. und 30. August 2023 die zweite und dritte Staatenprüfung statt. Im Vorfeld äußerten sich die freien Zivilgesellschaften und das Deutsche Institut für Menschenrechte in einem eigenen Parallelbericht zur Umsetzung der UN-BRK. Der UN-Fachausschuss veröffentlichte seinen abschließenden Bericht Anfang dieses Monats.
In dem Bericht wurden die aktuellen gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen begrüßt. Hierzu gehören unter anderem die Bundesinitiative Barrierefreiheit, das Bundesteilhabegesetz, die Reform des Vormundschaftsgesetzes für Kinder und Erwachsene oder auch das Gesetz Kinder- Jugendstärkungsgesetz.
Der Ausschuss äußerte sich jedoch besorgt über die diskriminierende Verwendung des medizinischen Modells zur Definition von Behinderung in vielen Rechtsbereichen auf Bundes- und Landesebene. Darüber hinaus werden fehlende strukturelle Möglichkeiten und Ressourcen für die aktive Beteiligung von Interessenvertretungen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen in allen sie betreffenden sozialpolitischen Angelegenheiten bemängelt. Zudem kritisiert der Ausschuss die unzureichende Menschenrechtsperspektive in den Aktionsplänen der einzelnen Bundesländer sowie die fehlende systematische Überprüfung der UN-BRK-Umsetzung. Auch mangelnde Strategien zur Förderung der Achtung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderungen sowie zur Förderung nachhaltiger Einstellungsänderungen in der Bevölkerung wurden in dem Staatenbericht angemahnt.
Mit großer Sorge betrachtet der Ausschuss die weitverbreiteten Zwangsunterbringungen, Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen bei Menschen mit Behinderungen aufgrund einer Beeinträchtigung in Einrichtungen der Pflege, Eingliederungshilfe, Psychiatrie und Forensik. Im Zusammenhang mit den Bestimmungen zur „Verhandlungsunfähigkeit“ ist der Ausschuss besorgt über die Möglichkeiten einer unbefristeten Inhaftierung von Menschen mit Behinderungen in forensisch psychiatrische Pflegeeinrichtungen. In diesem Kontext werden unabhängige Beschwerdestellen und Rechtsbehelfsmechanismen in Pflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen sowie in psychiatrische und forensische Einrichtungen gefordert. Der Staatenbericht macht außerdem auf die noch immer bestehende Segregation von Menschen mit Behinderungen in institutionelle Einrichtungen, auf das Fehlen von Maßnahmen zur Förderung der Deinstitutionalisierung und auf bestehende Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen Unterstützungsleistungen in Bezug auf ihren Wohnort frei wählen zu können aufmerksam. Im Bereich der medizinischen und psychosozialen Versorgung werden grundsätzlich fehlende Mechanismen zur Überwindung der gesetzlichen Fragmentierung des Versorgungssystems und zur Sicherstellung von umfassenden und personenzentrierten Behandlungs- und Rehabilitationsleistungen für Menschen mit Behinderungen bemängelt. Auch im Bereich Arbeit und Bildung ist es in den letzten Jahren noch nicht gelungen geeignete Rahmenbedingungen für ein inklusives Bildungssystem und einen inklusiven Arbeitsmarkt sowie geeignete Unterstützungsformen für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen und komplexen Unterstützungsbedarfen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu entwickeln und flächendeckend umzusetzen. So macht der Ausschuss unter anderem auf die immer noch bestehende hohe Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen, auf die hohe Zahl von Menschen mit Behinderungen im geschützten Beschäftigungs- und Bildungsbereich sowie auf die niedrigen Übergangsraten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aufmerksam.
Ausgehend von der Staatenprüfung formuliert der Fachausschuss für Deutschland eine Vielzahl an Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK. Zu den wichtigsten und nachdrücklichsten Empfehlungen gehören unter anderem:
- Die Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, in den Umsetzungs- und Überprüfungsprozess der UN-BRK.
- Die Entwicklung einer umfassenden Deinstitutionalisierungsstrategie mit konkreten Maßnahmen und der Freigabe von entsprechenden personellen, technischen und finanziellen Ressourcen sowie mit der Bestimmung von klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überprüfung.
- Die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems und Arbeitsmarktes sowie die Verbesserung der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit der Freigabe von entsprechenden Ressourcen und der Bestimmung von klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überprüfung.
Im Vergleich zum vorherigen Bericht des UN-Fachausschusses aus dem Jahr 2015 lassen sich in Deutschland bisher nur wenige wegweisende Entwicklungen bei der UN-BRK-Umsetzung beobachten. Es bedarf weiterhin auf sozialpolitischer und gesellschaftlicher Ebene zahlreiche Anstrengungen, um die vollständige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern und entsprechende Barrieren abzubauen. Als besondere Chance sind die aktuellen gesetzlichen und sozialpolitischen Maßnahmen anzusehen, welche zumindest erstmal formal dazu beitragen, dass sich die Rahmenbedingungen für die volle und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Zukunft verbessern. Einschätzungen zur konkreten Umsetzung und zu deren Auswirkungen auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen bleiben jedoch noch aus. Der vollständige Bericht der Staatenprüfung des UN-Fachausschusses zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland kann hier frei eingesehen werden.