Verhinderung von Zwang in der psychiatrischen Behandlung

Zwangseinweisungen und -behandlungen im psychiatrischen Versorgungskontext gehören in Deutschland immer noch zu einer weitverbreiteten Praxis. Studien zufolge hat sich die Anzahl von ungewollten Klinikeinweisungen und Zwangsbehandlungen hierzulande trotz der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich erhöht. Von den Betroffenen und ihren Angehörigen werden Zwangseinweisungen und -behandlungen als besonders erniedrigend und belastend erlebt. Vor allem bei Patient*innen mit einem traumatischen Erfahrungshintergrund führen Zwangseinweisungen und -behandlungen oftmals zu einer Re-Traumatisierung.

In der Literatur werden gegenwärtig eine Reihe verschiedener Versorgungskonzepte und Interventionsstrategien zur Reduktion von Zwangseinweisungen und -behandlungen diskutiert. Ausgehend davon wurde die S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Nervenheilkunde 2022 veröffentlicht, die eine Übersicht zu wissenschaftlichen Empfehlungen zur Verhinderung von Zwangsmaßnahmen und -behandlung sowie zur Reduktion von Aggression und Gewalt in der psychiatrischen Versorgung enthält.

Die Rheinische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (RGSP) fasst in einer aktuellen Broschüre die S3-Leitlinie “Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen” kurz und verständlich auf acht Seiten zusammen. Die Broschüre soll Profis, Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen eine Übersicht zu Verhaltensrichtlinien geben, um Zwangsmaßnahmen und Gewalt zu minimieren bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen.

Die Broschüre steht hier als kostenloser Download zur Verfügung.

Rückblick Landesweite Gedenkveranstaltung “ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN” 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg

Der 27. Januar gilt als internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust sowie als nationaler Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Seit 2008 steht dieser Tag auch im Zeichen der Opfergruppe der Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie geistigen und körperlichen Behinderungen, die im Rahmen der T4-Aktionen in der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht oder dauerhaft geschädigt wurden. Mehr als 300.000 Menschen mit psychischen und anderen Erkrankungen und Behinderungen kamen während der NS-„Euthanasie“ ums Leben und mehr als 400.000 Menschen wurden Opfer von Zwangssterilisierungen.

Kranzniederlegung in Alt Rehse

In trialogischer Zusammenarbeit veranstaltet der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. seit 2008 gemeinsam mit verschiedenen regionalen Kooperationspartner*innen und Akteur*innen die Landesweite Gedenkveranstaltung „ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN” in Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen in Mecklenburg-Vorpommern in der Zeit des Nationalsozialismus.

In diesem Jahr fand die Landesweite Gedenkveranstaltung in Kooperation mit dem Dietrich-Bonheoffer-Klinikum Neubrandenburg, dem Verein „Das Boot“ Wismar e.V., dem Verein EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e.V., der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V., dem Gemeindepsychiatrischen Verbund Mecklenburgische Seenplatte, dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V. in Alt Rehse und Neubrandenburg statt.

Alt Rehse – ein Ort mit wechselvoller Geschichte

Bereits 2019 wurde eine Landesweite Gedenkveranstaltung in Alt Rehse veranstaltet. Aufgrund der besonderen Geschichte dieses Ortes im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik griffen die Organisator*innen in diesem Jahr Alt Rehse erneut neben Neubrandenburg als Veranstaltungsort auf.

Religiöse Andacht in der Dorfkirche Alt Rehse

Der kleine Ort Alt Rehse befindet sich direkt in der Nähe von Neubrandenburg am Tollensesee. 1934 ging der Ort an den Nationalsozialistischen Ärztebund, der auf Verlangen der Reichsärzteführung dort die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ errichtete. Mehr als 10.000 Mediziner, Hebammen und Apotheker nahmen in dem zum Musterdorf umgebauten Ort von 1935 bis 1941 an ideologischen Schulungen teil. Die Seminare lehrten die Vorrangigkeit der Volksgesundheit vor der Gesundheit des Einzelnen sowie die völkische Blut- und Boden-Ideologie. Auf dem Lehrplan standen Themen wie “Rassenhygiene”, “Erbgesundheit” und “Der nationalsozialistische Arzt”. Ziel war es, eine medizinische Elite auszubilden, die die unmenschliche Ideologie der Nazis mit Überzeugung vertrat. Viele von ihnen waren später an Verbrechen wie der Zwangssterilisation und systematischen Ermordung von Menschen mit psychischen, körperlichen und geistigen Behinderungen beteiligt. Nach dem Nationalsozialismus wurde das Gelände rund um Alt Rehse unter anderem als Fortbildungsstätte für Lehrer*innen in der DDR oder als Erholungsstätte genutzt. Heute ist Alt Rehse als Tagungs- und Urlaubsort bekannt.   

Kranzniederlegung in Alt Rehse

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus fand in der Dorfkirche von Alt Rehse eine religiöse Andacht mit Pastor Hartmuth Reincke von der Kirchengemeinde Penzlin – Mölln statt. Im Anschluss ging die EX-IN Erfahrungsexpertin Undine Gutschow in ihrer Lesung auf das Schicksal der Opfer der NS-„Euthanasie“ und ihren hinterbliebenen Angehörigen ein.  

Veranstaltung zur Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ in Neubrandenburg

Nach der öffentlichen Kranzniederlegung auf dem Gelände der Dorfkirche von Alt Rehse ging es für die Teilnehmer*innen zur anschließenden Veranstaltung nach Neubrandenburg in den Konferenzsaal des Dietrich-Bonheoffer-Klinikums. Dort begrüßte Dr. Rainer Kirchhefer (Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Dietrich-Bonheoffer-Klinikums) die Gäste. In seinem Grußwort setzte er sich kritisch mit der Rolle der helfenden Professionen bei der Vorbereitung und Durchführung der NS-„Euthanasie“ im Nationalsozialismus auseinander. Zudem wies er auf die Bedeutung der Landesweiten Gedenkveranstaltung im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen hin. In vielen gesellschaftlichen Diskursen haben demokratiefeindliche Einstellungen, die Ausgrenzung von sexuellen, ethnischen oder religiösen Minderheiten, Anfeindungen gegenüber politisch Andersdenkende und die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen deutlich zugenommen. Die Landesweite Gedenkveranstaltung trägt dazu bei, ein Zeichen für Toleranz und Solidarität zu setzen sowie Rassismus und Demokratiefeindlichkeit gemeinsam entgegenzutreten.    

Dr. Rainer Kirchhefer bei der Begrüßung

Die Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. Sandra Rieck erinnerte in ihrem Grußwort an die Wegbegleiter*innen, die die Landesweite Gedenkveranstaltung seit 2008 aktiv mitprägten. Hierzu gehören unter anderem Käthe Schüler, Prof. Dr. Harald Freyberger und Prof. Dr. Klaus Dörner. In ihren Namen rief sie dazu auf, nicht nachzulassen, den Blick auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ zu richten und die Rolle der helfenden Professionen während der NS-Zeit  kritisch zu reflektieren. Sie forderte die Teilnehmenden auf, mit einer Haltung von Respekt und Toleranz gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Sinne der Menschenrechte und der UN-Behindertenkonvention zu gestalten und gegen alle Anfeindungen und Ausgrenzungen zu verteidigen.

Blick in den Konferenzraum

Christian Kaiser aus dem Verein EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e.V. setzte sich in seinem Grußwort mit der gegenwärtigen Behandlung- und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auseinander. Noch immer werden Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft stigmatisiert oder von wichtigen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen. Viele Betroffene sind trotz der UN-Behindertenrechtskonvention Zwangsmaßahmen und -behandlungen in der Psychiatrie ausgesetzt oder in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt. Zudem fehlt es in vielen Regionen an notwendigen Behandlungs- und Unterstützungsangeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Angehörigen. Allerdings können gegenwärtig aber auch viele positive Entwicklungen verzeichnet werden wie die Implementierung der Recovery-Orientierung in der psychiatrischen Behandlung, die Entwicklung der Selbsthilfe sowie die zunehmende Partizipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der psychiatrischen Versorgung.

Der 1. stellvertretende Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg Peter Modemann bedankte sich bei den Organisator*innen für die Durchführung der Landesweiten Gedenkveranstaltung in Neubrandenburg. In seinem Grußwort gab er einen Überblick zur regionalen Gedenk- und Erinnerungskultur in Neubrandenburg. Er betonte wie wichtig diese Initiativen sind, um vor dem Hintergrund der NS-Geschichte rechtspopulistischen und antisemitistischen Entwicklungen in Deutschland entgegenzuwirken. Dabei wies er auf die Notwendigkeit hin, die Erinnerungs- und Gendenkkultur weiterzuentwickeln, um vor allem bei jüngeren Generationen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten.

Vortrag Dr. Martin Müller-Butz

In seinem Vortrag „Idylle, Ideologie und Verantwortung. Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse“ informierte Dr. Fabian Schwanzar (Geschäftsführer und Leiter der EBB Alt Rehse) zum aktuellen Stand der historischen Aufarbeitung um die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft und über die Aktivitäten der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte in Alt Rehse. Auf das Schicksal der polnischen Frauen im KZ-Außenlager Neubrandenburg ging Dr. Martin Müller-Butz von der Geschichtswerkstatt Zeitlupe der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V. ein. Am Beispiel der partizipativen und multimedialen Projektarbeit der Geschichtswerkstatt zeigte er auf, wie durch die direkte Einbeziehung von regionalen Akteur*innen bei der historischen Aufarbeitung und durch den Einsatz von aktivierenden künstlerischen Methoden, eine nachhaltige politische Bildungsarbeit umgesetzt sowie ein demokratieförderndes Geschichtsbewusstsein unterstützt werden kann. Zum Abschluss beschäftigte sich Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust (Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.) mit den Perspektiven, die sich aus der historischen Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ für die Gegenwart ergeben. Dabei machte sie darauf aufmerksam, dass es notwendig ist, sich als Gesellschaft frühzeitig klar gegen Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Hass zu positionieren, um den Einfluss von antidemokratischen, rechtsextremistischen und antisemitischen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft zu verhindern.

Beteiligte Organisator*innen, Referent*innen und Moderator*innen: Jeanne Nicklas-Faust, Fabian Schwanzar, Frank Hammerschmidt, Martin Müller-Butz, Antje Werner, Karsten Giertz, Sandra Rieck, Rainer Kirchhefer, Christian Kaiser, Peter Modemann (von links nach rechts).

Im Namen der Organisator*innen möchten wir uns nachträglich noch einmal bei allen Teilnehmenden und Referent*innen für die gelungene Veranstaltung bedanken. Einen Beitrag im NDR zur Landesweiten Gedenkveranstaltung 2024 finden Sie hier.

Landesweite Gedenkveranstaltung ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN am 27. Januar 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg

Wir freuen uns, Sie alle in diesem Jahr wieder zur Landesweiten Gedenkveranstaltung einladen zu dürfen.

Am 27.01.2024 Mal treffen wir uns in Alt Rehse, dem Ort mit einer besonders prägenden Geschichte für die Durchführung der menschenverachtenden NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen.

Auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern rufen wir zum 27. Januar, dem Nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und den Internationalen Holocaust-Gedenktag dazu auf, jetzt erst recht hinzuschauen und wachsam zu sein.

Wir erinnern dabei an Wegbegleiter, die unsere Gedenkveranstaltungen seit 2008 aktiv mit prägten und begleiteten: Käthe Schüler, Prof. Dr. Harald Freyberger und Prof. Dr. Klaus Dörner. Wir möchten Sie auch in deren Namen und Andenken dazu aufrufen, nicht darin nachzulassen, den Blick auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Geschichte der Profession der Helfenden zu richten. Heute ist es an uns, die Rahmenbedingungen mit ein einer stabilen Haltung von Respekt und Toleranz im Sinne der Menschenrechte und der UN-Behindertenkonvention zu gestalten und gegen alle Anfeindungen und Ausgrenzungen zu verteidigen.

„Nur wenn die „Euthanasie“-Toten uns ohne Unterlass an die stets offenen Wunden der Psychiatrie erinnern, sind sie vielleicht nicht umsonst gestorben.“ Prof. Dr. Klaus Dörner (1933 – 2022).

Weitere Informationen zum Programm und zu den Veranstaltungsorten finden Sie hier:

Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Gesetzgebung: Leitfaden und Praxis

In den letzten Jahren wurde die psychische Gesundheit zunehmend als ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkannt. Viele Länder haben den Anspruch auf der Grundlage von internationalen Menschenrechtsstandards die psychische Gesundheit und das psychische Wohlbefinden in der Bevölkerung nachhaltig zu fördern. Zudem wird die Einführung von Gesetzen und Richtlinien thematisiert, die den Zugang zu qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und Unterstützung sowie das Recht von Menschen mit psychischen Erkrankungen nach Selbstbestimmung und Teilhabe garantieren. Zahlreiche Länder arbeiten daran, den Zugang zur psychiatrischen Versorgung zu verbessern, die Stigmatisierung und Diskriminierung von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung zu reduzieren und die partizipative Beteiligung von Personen mit Erfahrung in Rechtsreformprozessen und in der Gestaltung der Gesundheits- und Sozialpolitik zu fördern. Trotz des politischen Willens befinden sich die meisten Länder in einem frühen Reformstadium.

Um Länder besser in diesem Bereich zu unterstützen, hat die Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit dem Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Leitlinie „Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Gesetzgebung: Leitlinien und Praxis“ entwickelt. Die Leitlinien schlägt zahlreiche Empfehlungen für die Entwicklung und Umsetzung einer menschenrechtsbasierten Gesetzgebung im Bereich der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung vor. Darin werden unter anderem rechtliche Bestimmungen dargelegt, die erforderlich sind, um die Deinstitutionalisierung und den Zugang zu qualitativ hochwertigen, personenzentrierten und gemeindenahen psychiatrischen Gesundheitsdiensten zu fördern. Die Leitlinie zeigt auf, wie Gesetze Stigmatisierung und Diskriminierung bekämpfen können, und bietet konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Zwang in psychiatrischen Diensten zugunsten von Praktiken, die die Rechte und die Würde der Menschen respektieren.

Die Leitlinie enthält außerdem wichtige Informationen, wie bei der Überprüfung, Verabschiedung, Umsetzung und Bewertung von Gesetzen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit ein menschenrechtsbasierter Ansatz verfolgt werden kann. Hierzu stellt die Leitlinie eine praktische Checkliste bereit, mit der Länder beurteilen können, ob ihre Gesetze mit den aktuellen Menschenrechtsstandards übereinstimmen.

Der Leitlinie richtet sich in erster Linie an Gesetzgeber*innen und politische Entscheidungsträger*innen, die direkt an der Ausarbeitung, Änderung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung von Rechtsvorschriften zur psychischen Gesundheit beteiligt sind. Die Leitlinie ist aber auch für Einzelpersonen oder Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für jede Einrichtung im Bereich der psychischen Gesundheit, psychiatrischen und psychosozialen Versorgung von Interesse.

Weitere Informationen finden Sie hier.

Fachtag “Multiprofessionelle Perspektiven in gemeinsamer Verantwortung für sog. Systemsprenger*innen” am 07. November 2023 in Güstrow

Woran scheitern Systeme der Polizei, Schule, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in komplexen Problemlagen? Gibt es Perspektiven für junge Menschen, die durch die Systeme gereicht werden und scheinbar ziellos und führungslos zwischen Maßnahmen der unterschiedlichsten Professionen und Straße hin und her wechseln? Wie kann es gelingen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen?

Eine wirkungsvolle Arbeit mit sogenannten Systemsprenger*innen bedarf einer abgestimmten Zusammenarbeit zwischen den Systemen. Voraussetzung dafür ist es, Angebote, Sprache, Konzepte, Rahmenbedingungen und Systemlogiken des jeweils anderen zu verstehen, immer wieder in den fachlichen Austausch zu gehen und gemeinsam Konzepte zu entwickeln, um darauf aufbauend eine gemeinsame Haltung zu entwickeln.

Auf Initiative des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern und des Landkreistages Mecklenburg-Vorpommern arbeitet eine AG, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Umgang mit sog. „Systemsprenger*innen“ qualifizieren will. Als Ergebnis dieser Arbeit wurde der Fachtag „Multiprofessionelle Perspektiven in gemeinsamer Verantwortung für sog. Systemsprenger*innen” am 07. November 2023 in Güstrow AG konzipiert. Neben dem fachlichen Input und der praxisnahen Vorstellung regionaler und überregionaler Konzepte soll insbesondere die systemübergreifende Vernetzung lokaler Akteur*innen in Mecklenburg-Vorpommern im Mittelpunkt stehen.

Hierzu sind alle Akteur*innen unter anderem aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Fachtagung eingeladen. Weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier im Flyer und hier auf der Internetseite des Veranstalters.

Fachtag “Krisenintervention und Nachsorge in helfenden Berufen” am 05. Oktober 2023 in Güstrow und online

Fachleute in helfenden Berufen stehen oft vor herausfordernden Situationen, die emotional belastend sein können. Umso wichtiger ist es, gut auf diese Situationen vorbereitet zu sein, angemessen reagieren zu können, Sorge für sich zu tragen sowie andere in schwierigen Zeiten zu unterstützen.

Am 05. Oktober 2023 veranstaltet der Landkreis Rostock gemeinsam mit weiteren Kooperationspartnern den Fachtag “Krisenintervention und Nachsorge in helfenden Berufen” zwischen 09:30 bis 15:30 Uhr in Güstrow. Ziel des Fachtages ist es, Raum für einen fachlichen Austausch zu schaffen, Möglichkeiten zur Bewältigung belastender Situationen zu erkunden sowie Nachsorgekonzepte zu präsentieren, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern.

Der Fachtag richtet sich an Führungskräfte, Fachkräfte und Interessierte aus den Bereichen Pflege, Sozialarbeit, Therapie, Verwaltung und verwandten Berufsfeldern. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenlos. Die Teilnehmeranzahl in Präsenz ist begrenzt. Alternativ ist eine Onlineteilnahme möglich.

Weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier im Flyer der Veranstaltung.

Videovorlesungsreihe Anthropologische Psychiatrie zum Thema „Mensch bleiben – auch in seelischer Not!“

An der Universitätsmedizin Hamburg-Eppendorf veranstaltet Thomas Bock jährlich eine Vorlesungsreihe zur Anthropologischen Psychiatrie mit verschiedenen Schwerpunkten. Ziel der Vorlesungsreihe ist, ein menschliches Bild von psychischen Erkrankungen zu vermitteln, sie nicht auf die Abweichung von Normen oder die Folge entgleister Transmitter zu reduzieren. Anlässlich der COVID-19-Pandemie findet seit 2020 die Vorlesungsreihe in digitaler Form statt. Die Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation der Universität Hamburg mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Irre menschlich Hamburg e.V. und psychenet. Dabei engagieren sich zahlreiche Expert*innen und Psychiatrieerfahrene sowie Angehörige.

Im diesjährigen Sommersemester 2023 beschäftigte sich die Vorlesungsreihe mit dem Thema „Mensch bleiben – auch in seelischer Not!“. Im Mittelpunkt der Vorlesungsreihe stehen die Erfahrungen mit dem Hilfesystem. Dabei werden folgende Fragestellungen aufgegriffen: Welche Hilfen bieten die besten Chancen, möglichst wenig zu kränken und zu schaden? Welche orientieren sich am meisten an Ressourcen und Lebenszusammenhängen? Welche erlauben, uns als Menschen möglichst vollständig wahrzunehmen und tiefe Krisen möglichst wenig zu stigmatisieren? Wo und wie bleibt die Kontinuität zwischen gesund und krank prägend auch für die Beziehungskultur? Wie gelingt es besonders breite Brücken zu bauen zwischen Selbst- und Fremdhilfe?

Der Blick richtet sich auf stationäre, ambulante und aufsuchende Hilfen, auf die Herausforderung, Zwang zu vermeiden, fair zu besprechen und gut zu verarbeiten. Welche Maßnahmen stehen im Zentrum jeder Reform – aus der Sicht professioneller und persönlicher Erfahrung?

Die Vorlesungsreihe wurde nun als Videostream veröffentlicht und mit dem Einverständnis der Veranstalter*innen auf dieser Internetseite eingebettet. Unten können die einzelnen Vorlesungen als Videos angesehen werden.

Stationäre Behandlung: Milieutherapeutisch und beziehungsorientiert

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Dr. Martin Voss (Soteria Berlin) & Marie Hubert (Soteria-Erfahrene)

Das Milieu wird von einer gemeinsamen Alltagsgestaltung geprägt und soll möglichst wenig klinisch sein. Auch in einer akuten Krise soll eine kontinuierliche therapeutische Beziehung Halt geben und den Bedarf an neuroleptischer Medikation aus guten Gründen reduzieren helfen. “Being with, open dialogue” – was heisst das auf deutsch? Welchen Stellenwert und Nutzen haben Angehörige, welche Bedeutung hat Genesungsbegleitung? Warum profitieren besonders Psychose-Erfahrene? Was davon geht überall? Wie gelingt der Übergang ins ambulante Setting?

Ambulant: Bedürfnisnah und psychotherapeutisch – Psychosenambulanz München

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Roswitha Hurtz (Ambulanz für Psychosen-Psychotherapie, kbo Isar-Amper-Klinikum München) & Ina Pirk (Psychotherapeutin in Ausbildung, UKE)

Die wissenschaftlichen Empfehlungen sind ebenso eindeutig wie die Prioritäten von Betroffenen und Angehörigen. Trotzdem ist Psychosen-Psychotherapie längst nicht selbstverständlich. Eine Flexibilität und ergänzende Komplexbehandlung können nötig sein. Um so wichtiger ist, dass auch Klinikambulanzen diese Herausforderung annehmen. Viele reduzieren Kontaktdichte und –vielfalt. Wie ist das zu verhindern?

Aufsuchende Hilfen: selbstverständlich mit Genesungsbegleitung – Beispiel Lüneburg

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Michaela Frommhagen (Pflegeleitung Psychiatrische Klinik Lüneburg) & Christina Meyn (Genesungsbegleitung Psychiatrische Klinik Lüneburg)

Akutbehandlung muss nicht stationär erfolgen, für viele ist die Situation einer klassischen Station sogar überfordernd und falsch. Mit der “stationsäquivalenten Akutbehandlung” zuhause wurde eine Alternative rechtlich möglich, aber längst nicht überall umgesetzt. Genesungsbegleitung kann zusätzlich helfen, das Stigmarisiko zu reduzieren. Die positiven Erfahrungen schildern.

Verbindliche Zusammenarbeit: die Benachteiligten nicht allein lassen – mehrere Beispiele

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Matthias Rosemann (Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e.V.) & Bettina Lauterbach (Vorstandsmitglied Hamburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.)

Seit der Psychiatrie-Enquête vor fast 50 Jahren wird eine enge verbindliche Zusammenarbeit aller an der Versorgung psychisch erkrankter Menschen gefordert, vor allem um der Benachteiligung von Menschen mit komplexem Bedarf entgegenzuwirken. Kliniken haben meist feste Einzugsbereiche, viele anderen Anbieter der psychosozialen Versorgung aber nicht. Vielerorts dominieren privat- und markt-wirtschaftliche Interessen. Fehlanreize und mangelnde Steuerung vergeuden Ressourcen. Gerade unter den Bedingungen des Fachkräftemangels wird verbindliche Kooperation alternativlos. Wenn wirklich eine verbindliche Zusammenarbeit gelingt, hat das beeindruckend positive Konsequenzen – vor allem für die Benachteiligten. Welche Menschen sind es, die darauf am meisten angewiesen sind? Welche Rolle spielt die Forensik dabei? Wie schaffen wir Verbindlichkeit und lassen doch Freiheit? Wo brauchen wir die Politik?

Vermeidung von Zwang: Was noch ist notwendig – ein offener Diskurs

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Prof. Dr. Tilman Steinert (ZfP Weissenau), Prof. Dr. Sebastian von Peter (Rüdersdorf) & Gwen Schulz (Hamburg)

Zwangsmaßnahmen können nachhaltig (re)traumatisieren. Deren Rate ist in Deutschland erschreckend hoch, situativ und regional aber sehr ungleich. Der Unterschied hat nicht nur mit den Patienten, sondern vor allem mit Institutionen, mit Haltung und Strukturen zu tun. Was genau hilft Zwang zu vermeiden? Welche Beziehungskultur, welche „weichen Mittel“, welche Strukturen, welche politischen Entscheidungen? Die Herausforderung liegt nicht nur bei den Kliniken, schon gar nicht nur bei Akutstationen. Was können und müssen Regionen gemeinsam tun, um Fortschritte zu etablieren? Welche Unterstützung kann und muss die Politik liefern? Welche Reflexion der eigenen Rolle und des Auftrags der Psychiatrie ist hilfreich? Was passiert, wenn sich die Psychiatrie vom Zwang verabschiedet? Welche Probleme bringt zusätzlich der Fachkräftemangel? Mehr Gefängnis und Forensik können nicht die Lösung sein; doch ein gesellschaftlicher Diskurs zu den möglichen Alternativen tut bitter not.

Trialogischer Austausch zur Psychiatrie der Zukunft – Offener Dialog als Maßstab?

Mit Prof. Dr. Thomas Bock, Gwen Schulz (Genesungsbegleiterin), Marion Ryan (Angehörigen-Begleiterin) & Dr. Sabine Schütze (ehemalige Oberärztin und Open-Dialogue-Trainerin)

Wie soll die Psychiatrie der Zukunft aussehen? Sind die geschilderten Erfahrungen vorbildlich? Was noch ist wichtig, damit wir jenseits starrer Rollen „Mensch bleiben“ und Zwang unnötig machen? Welche Irrwege sind zu meiden? Wie kann die Psychiatrie attraktiver und offener werden – für Mitarbeiter:innen und für die, die sie am meisten brauchen? Wie entstehen mehr Raum und mehr Bereitschaft für das, was am Ende entscheidet, für menschliche Begegnung?

Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. auf dem Kolloquium “Passt nicht gibt’s nicht!” am 11. Juli 2023 in Berlin

Verständnis für die Situation von sogenannten „Systemsprenger*innen“, „High Utilizer“ entwickeln

Am 11. Juli 2023 veranstaltet der Paritätische Gesamtverband in Berlin das Kolloquium “Passt nicht gibt’s nicht! Gemeinsam Perspektiven für junge Menschen mit hohem Hilfebedarf und herausforderndem Verhalten entwickeln”. Gemeinsam mit Selbstvertreter*innen und Paritätischen Kolleg*innen aus Jugendhilfe, psychiatrischen Hilfen und Suchthilfe soll arbeitsfeldübergreifend ein gemeinsames Verständnis für die Situation von sogenannten „Systemsprenger*innen“, „High Utilizer“ vor dem Hintergrund der eigenen professionellen Haltung entwickelt werden. Hierbei werden auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit an den Schnittstellen der jeweiligen Arbeitsfelder genauer in den Blick genommen und Perspektiven für eine Weiterentwicklung der Angebote entwickelt.

Auch der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. beteiligt sich im Rahmen eines Workshops zum Thema “Beziehungen gestalten und leben” mit Frank Hammerschmidt und Karsten Giertz am Kolloquium.

Weitere Informationen zum Programm und zur Veranstaltung finden Sie hier.

Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. auf der Fachtagung „Systemsprenger*innen – Fehler im System?“ am 07. Juli 2023 in Tübingen

Die Schwierigsten zuerst! Dieser alte sozialpsychiatrische Leitsatz wird leider in der Praxis kaum umgesetzt. Menschen, die auf Grund ihrer psychischen Erkrankung einen besonders komplexen Assistenzbedarf haben, nicht gut in Gruppen leben können, starke Suchterscheinungen oder herausforderndes Verhalten aufweisen oder zusätzlich im größeren Umfang pflegerische Unterstützung benötigen, finden in vielen Region oftmals kein passendes Angebot.

Aus diesem Grund veranstaltet der Verein Sozialpsychiatrie e.V. am 07. Juli 2023 in Tübingen unter dem Motto „Systemsprenger*innen – Fehler im System? Auf dem Weg zu einem sozialpsychiatrischen Angebot für Menschen, für die es in der Region (noch) kein passendes Angebot gibt“ eine Fachveranstaltung. Neben mehreren Fachexpert*innen beteiligt sich auch der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. mit der Mitarbeiterin Lisa Große im Rahmen von zwei Fachvorträgen zur wissenschaftlichen Forschung und zu möglichen Unterstützungsformen für diese Zielgruppe an der Fachtagung.

Weitere Informationen zur Anmeldung und zum Programm finden Sie hier.  

Broschüre Wirksamer Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe in leichter Sprache und für Fachkräfte

Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet dazu, jede Form von Gewalt und Missbrauch zu verhindern. Studien zeigen jedoch, dass dies nicht der gelebten Realität entspricht und Menschen mit Behinderungen einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt sind, Gewalterfahrungen zu machen. Besonders Frauen, die in Institutionen leben, sind von verschiedenen Gewaltformen betroffen.

Der Gesetzgeber hat im Juni 2021 durch die Einführung des § 37a SGB IX die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Gewaltschutz zu entwickeln. Er verpflichtet die Rehabilitationsträger dazu, darauf hinzuwirken, dass der Schutzauftrag durch die Leistungserbringer umgesetzt wird.
Was aber ist eine wirkungsvolle Umsetzung des § 37a SGB IX? Bisher sind keine verbindlichen Kriterien für Gewaltprävention und Gewaltschutz im Gesetz beschrieben. Mindeststandards für eine qualitätsgesicherte Umsetzung sind nicht definiert. Hier soll diese Broschüre zur Implementierung und Bewertung wirksamer Gewaltschutzkonzepte in der Eingliederungshilfe nach § 37a SGB IX eine erste Brücke schlagen und Unsicherheiten abbauen.

Die Broschüre wurde von der Arbeitsgruppe 33 des Landespräventionsrates Schleswig-Holstein, dem PETZE-Institut für Gewaltprävention gGmbH und dem damaligen Landesbeauftragen für Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein in Orientierung an den Landesrahmenvertrag SGB IX SH erarbeitet. Die Broschüre kann hier für Fachkräfte und in leichter Sprache abgerufen werde.