Am 27. Januar 2022 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 77. Mal und ist seit 1996 der offizielle „Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus“. Gleichzeitig steht dieser Tag in Mecklenburg-Vorpommern seit 2008 im Zeichen einer langen Zeit der Tabuisierung und des Verschweigens der Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus.
Die rassenideologischen Überlegungen und das kalte ökonomische Kalkül, das die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens an seiner so genannten “Nützlichkeit” und “Brauchbarkeit” für die Gesellschaft bemaß, waren nur ein Teil der Motive, die die Aktion “T4” in Gang setzten und befeuerten. Damit einher ging auch eine Deformierung moralischen Empfindens, die viele Menschen zu der Überzeugung gelangen ließ, die Tötung kranker und behinderter Menschen wäre ein Akt des Mitleids und deshalb auch ethisch legitim.
Die Aktion T4 ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 unter Leitung der Zentraldienststelle T4, die in der Berliner Tiergartenstraße 4 angesiedelt war. Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler mit einem auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Schreiben den Leiter der KdF Bouhler und Hitlers Begleitarzt Karl Brandt als medizinischen Ansprechpartner mit der organisatorischen Durchführung der als „Euthanasie“ bezeichneten Tötung von „lebensunwertem Leben“.
Zwar wurde diese geheime „Aktion T4“ im August 1941 eingestellt, doch das Töten ging dezentral in den Anstalten weiter.
Den Tötungen im Rahmen der nationalsozialistischen »Euthanasie« fielen auch mehrere tausend Kinder und Jugendliche zum Opfer. In eigens dafür geschaffenen Kinderfachabteilungen wurden die für die Gemeinschaft und für künftige Generationen nicht tragfähig Erscheinende selektiert und schließlich ermordet. Auch Zöglinge aus Fürsorgeeinrichtungen und Kinderheimen, häufig konfessioneller Art, rückten zunehmend ins Blickfeld. Nicht selten gab es regionale Interessen, solche Einrichtungen kriegswirtschaftlich zu nutzen. Ein solches Beispiel sind die Lobetaler Anstalten bei Lübtheen in Mecklenburg. Durch die Enteignung der Einrichtung im April 1941, initiiert durch den Gauleiter Friedrich
Hildebrandt, war der Weg zur Ermordung der dort betreuten geistig behinderten Kinder frei. Sie wurden in die Kinderfachabteilung Lewenberg (Schwerin) verlegt und dort größtenteils auf Veranlassung des Leiters der Abteilung, Dr. Alfred Leu, ermordet. Zynisch äußerte sich Hildebrandt bei einer Tagung am 15. April 1941 in Schwerin: „Lobetal habe ich säubern lassen. Die Idioten habe ich dahin bringen lassen wo sie hingehören.“ (Michael Buddrus (Hrsg.): Mecklenburg im Zweiten Weltkrieg. Die Tagungen des Gauleiters Friedrich Hildebrandt mit den NS-Führungsgremien des Gaues Mecklenburg 1939–1945. S. 141)
Auch wenn das Erinnern in diesem Jahr, wie vieles, was wir für selbstverständlich erachtet haben, wieder anders sein wird, wird es nicht weniger wichtig sein. Die durch die „Aktion T4“ ausgelösten massenhaften Tötungen dürfen sich nicht wiederholen. Auch deswegen bleibt Antifaschismus Tagesaufgabe.
Steffen Bockhahn
Senator für Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule, zweiter stellvertretender Bürgermeister der Hanse- und Universitätsstadt Rostock