Projekt “Stumme und sprechende Opfer” politischer Verfolgung in der DDR – Häufigkeit, Typologie, psychosoziale Charakteristika und körperliche Gesundheit

Projektleitung:
PD Dr. Carsten Spitzer, Prof. Dr. Harald J. Freyberger

Mitarbeiterinnen:
Dipl. Psych. Katja Appel, Dipl. Psych. Andrea Schulz

Projektbeschreibung:
Unrechtsmaßnahmen seitens der Staatsorgane der DDR sind qualitativ und typologisch aus verschiedenen Gründen schwer zu bestimmen und die Zuordnung der Betroffenen zu bestimmten Opfergruppen bleibt problematisch. Somit ist auch die quantitative Erfassung der Unrechtsmaßnahmen und der von ihnen Betroffenen schwierig. Selbst für vergleichsweise klar definierbare Opfergruppen wie diejenige der politischen Häftlinge werden nur näherungsweise Schätzwerte angegeben, die zwischen 150.000 und 280.000 liegen. Für Betroffene so genannter Zersetzungsmaßnahmen gehen Schätzungen von vier- bis fünfstelligen Personenzahlen in den siebziger und achtziger Jahren aus. Politische Benachteiligungen während der Berufsausbildung erfuhren etwa 3,6% aller DDR-Bürger. Obwohl oder gerade weil offen ist, wie viele Menschen tatsächlich von Unrechtsmaßnahmen und politischer Verfolgung in der DDR betroffen waren, ist im Zuge der Aufarbeitung der SED-Diktatur und im Prozess der Wiedervereinigung die gesellschaftliche Würdigung und Anerkennung dieser Menschen bis heute ein zentrales politisches und kulturelles Anliegen. Dafür wurden als ein wichtiges Instrument die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze verabschiedet, die den Opfern straf-, berufs- und verwaltungsrechtliche Rehabilitationsmöglichkeiten eröffnen. Diese Optionen sind jedoch nur begrenzt genutzt worden. So wurden beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern bis Ende 2003 nur 17.261 Anträge zu Unrecht Verurteilter beim Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung eingereicht. Hinsichtlich einer berufs- und verwaltungsrechtlichen Rehabilitation wurden 14.960 Anträge bis Ende 2003 gestellt. Angesichts der eingangs erwähnten Schätzungen ist jedoch davon auszugehen, dass die Zahl der Betroffenen, die Anspruch auf Rehabilitierung haben, deutlich höher liegt. Daher stellt sich die drängende Frage, warum ein substantieller Anteil Betroffener “stumm” geblieben ist, während andere sich auf vielfältige Weise um Anerkennung bemüht haben (diese Gruppe bezeichnen wir als “sprechende Opfer”). Die Anzahl der “stummen Opfer” ist wahrscheinlich hoch und vermutlich stellen sie eine Gruppe dar, die politisch, gesellschaftlich, psychiatrisch-psychologisch und medizinisch besonderer Aufmerksamkeit bedarf.

Zu der Frage, warum Betroffene “stumm” geblieben sind, lassen sich aus psychiatrisch-psychologischer Perspektive verschiedene Hypothesen aufstellen. Zum einen kann man davon ausgehen, dass die “stummen” im Vergleich mit den “sprechenden Opfern” unter mehr psychischen Erkrankungen leiden, die ihrerseits als direkte oder indirekte Folgen der Repressionen zu werten sind. Zum anderen ist zu vermuten, dass die “stummen” Betroffenen über weniger geeignete Strategien zur Bewältigung ihrer Unrechtserfahrungen verfügen, wodurch sich ihr Schweigen erklärt.

Vor dem Hintergrund dieser Befundlage will die geplante Studie (i) einen Beitrag zur quantitativen und qualitativen Unrechts- und Opfertypologie leisten, (ii) das psychiatrisch-psychologische Profil der “stummen” Opfer herausarbeiten, (iii) die Beweggründe für das Schweigen analysieren., und (iv) die körperliche Gesundheit der “stummen und sprechenden Opfer” untereinander und mit einer Gruppe nicht verfolgter Personen vergleichen.

Dazu soll in einer empirisch angelegten Querschnittsstudie eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe aus Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der erfahrenen Unrechtsmaßnahmen, ihrer Persönlichkeitsmerkmale, psychischer und somatischer Erkrankungen sowie ihrer Bewältigungsressourcen untersucht werden. Anhand festgelegter Kriterien erfolgt eine Kategorisierung in “stumme vs. sprechende Opfer”, die in einem nächsten Schritt miteinander verglichen werden. Zudem soll die körperliche Gesundheit politisch Verfolgter mit einer Gruppe nicht verfolgter Personen verglichen werden. Potentielle Studienteilnehmer werden über die Untersuchung “Study of Health in Pomerania” (SHIP) rekrutiert, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald angesiedelt ist. Bei Zustimmung zur Teilnahme werden die Probanden von Diplom-Psychologen ausführlich untersucht. Die Befunde zur körperlichen Gesundheit wurden bzw. werden in SHIP erhoben.

Die Ergebnisse sollen einerseits der psychiatrischen Fachwelt, andererseits politischen und gesellschaftlichen Institutionen, welche die Belange der Opfer der SED-Diktatur vertreten, zur Verfügung gestellt werden. Wir hoffen, dass wir auf der Grundlage unserer Ergebnisse Empfehlungen formulieren können, die auch den “stummen Opfern” zu einer gesellschaftlichen Anerkennung verhelfen.