Von Sandra Rieck
Die Schriftstellerin Helga Schubert, Jahrgang 1940, hat zehn
Jahre zu diesem Thema gearbeitet, ein Stipendium des Landes
Mecklenburg-Vorpommern half etwas dabei in dieser Zeit, wofür
sie dankbar ist. Das Buch "Die Welt da drinnen"
(2003) entstand als literarische Verarbeitung eines bespiellosen
Kapitels der sog. "Euthanasie"-Verbrechen in nationalsozialistischer
Diktatur, Ausführende waren damals Ärzte und PflegerInnen
in der Schweriner Nervenklinik am Sachsenberg.
Nach der Wende sieht sich die in der Nähe von Schwerin
sowie in Berlin lebende Schriftstellerin den fast 200 Patientenakten
gegenüber, die zu DDR-Zeiten unter Verschluss des Ministeriums
für Staatssicherheit lagerten. Sie ist erst die zweite
Interessentin aus Schwerin für diese Originalakten, als
sie mit ihrer Recherche in den neunziger Jahren beginnt und
sich Tag für Tag ins Bundesarchiv Berlin begibt. Diese
Akten sind Zeitzeugen, letzte Dokumente einer lange tabuisierten
Zeit der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" durch
ein nationalistisches und rassistisches Gesundheits- und Justizsystem
während der Diktatur des Nationalsozialismus von 1933
bis 1945. Jede Akte ein Schicksal: verdrängt, verleugnet.
Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern
initiierte und koordinierte gemeinsam mit den Landesverbänden
der Psychiatrieerfahrenen MV und der Angehörigen und
Freunde psychisch Kranker MV, vielen regionalen Akteuren und
der Landeshauptstadt Schwerin die dritte landesweite Gedenkveranstaltung,
gemeinsam mit den HELIOS Kliniken Schwerin.
+ + + 27. Januar 2010, 9.30 Uhr Krankenhauskapelle, Beginn:
Die Krankenhauseelsorgerinnen laden zur religiösen Andacht,
zur "Klage vor Gott" und lassen dabei Zeilen aus
Helga Schuberts Buch sprechen: die beiden Tage im Juli und
August 1941, fiktive Gespräche der Pflegerinnen und Pfleger
zu den Patienten und Patientinnen, fiktive Fragen von diesen
zum bevorstehenden Ausflug. Die grauen Busse der gemeinnützigen
Krankentransportanstalten stehen zur Abfahrt bereit, hinter
schwarz gestrichenen Fenstern fahren 275 Menschen in die Tötungsanstalt
Bernburg, sie überleben diesen Ausflug nicht, sind schon
einen Tag danach tot.
Es ist eng in der Kapelle, etwa 40 Menschen haben sich in
diesem kleinen Raum versammelt während die Pastorin Frau
Ogilvie die vielen Kerzen vorne nach und nach ausbläst,
die für die getöteten Menschen stehen. Ein Altarlicht
bleibt an, es ist das Zeichen der Hoffnung.
+ + + 27. Januar 2010, 10.00 Uhr, am Mahnmal auf dem Klinikgelände:
Es ist zwischen -8 und - 10 Grad kalt, als etwa 80 Menschen
vor dem Mahnmal stehen. Es war heute nicht ganz leicht, den
Weg zu finden, auf diesem weitläufigen Gelände
Seitens der HELIOS Kliniken begrüßt Chefarzt Prof.
Dr. Broocks die Anwesenden und führt in die Entstehungsgeschichte
des Mahnmals ein: bunte Stelen aus Keramik, Stümpfe für
die vernichteten Menschen. Ein langes Ringen, dann der erfüllte
Wunsch u.a. der Mitglieder des Freundeskreises Sachsenberg
e.V. im Jahr 2008 und die späte Würdigung der hier
Gestorbenen.
Der Schweriner Stadtpräsident Herr Stephan Nolte spricht
und unterstreicht die Bedeutung des Erinnerns in Schwerin
gerade in heutiger Zeit, gegen das Vergessen und für
den politischen Auftrag: die Belange von Menschen mit Behinderungen
in heutiger Zeit zu vertreten.
Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern
ist Initiator dieser Veranstaltungsreihe und sein Vorsitzender,
Torsten Benz, spricht darüber, dass Ausgrenzung eine
lange Tradition für Menschen mit psychischen Erkrankungen
und Behinderungen hat. Wir müssen mit unserem heutigen
Wissen dieser gesellschaftlichen und institutionellen Ausgrenzung
entgegentreten, auch in der Positionierung in der heutigen
Kostendebatte und wenn es um die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention
geht sowie um den Grundsatz, ambulant vor stationär.
Der Landesbischof der Evangelischen Kirche, Andreas von Maltzahn,
zitiert aus einem Rechenbuch für Grundschüler der
dreißiger Jahre: Kosten- Nutzenrechnungen, soviel kostet
ein Tag für einen Mörder und soviel mehr ein Tag
für einen Krüppel, welche Kosten pro Jahr entstehen
dem Volke? Die Anwesenden sind erschüttert. Unsere Werte
von Mitmenschlichkeit und Solidarität mit dem Schwächsten
müssen wir diesem Denken auch heute immer wieder entgegen
setzen, mahnt der Landesbischof.
Nach den Gedenkworten werden Kränze und Blumen niedergelegt.
Es ist sehr kalt an diesem Tag, dem nationalen Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus, dem Tag der Befreiung des
KZ Ausschwitz-Birkenau vor 65 Jahren.
Wir gehen in das Parkrestaurant und wärmen uns bei Tee
und Kaffee, stärken uns bei einer Suppe und haben Zeit
für Gespräche, zum Verweilen, zum Verarbeiten der
Eindrücke. Die Klinik ist für den Vormittag Gastgeberin
und lädt die Anwesenden zu diesem Imbiss.
(Heute ist hier in Schwerin auch Landtagssitzung. Die Landtagspräsidentin,
Frau Brettschneider, übermittelte ihre Grüße
an unsere Veranstaltung bereits im Vorfeld und hat um 10.00
Uhr das Parlament zu einer Gedenkstunde im Landtag aufgerufen.
Die Fraktion der NPD bleibt dieser Stunde fern, später
sorgt der Fraktionschef erneut für Entrüstung im
Landtag mit seiner zustimmenden Äußerung zur Vernichtungsabsicht
des jüdischen Volkes der Nationalsozialisten unter Hitler.)
+ + + 27. Januar 2010, 12.00 Uhr, Fridericianum Schwerin:
Im Foyer des Gymnasiums empfängt die etwa 250 Gäste
des Nachmittages die Ausstellung "Erlebt-Verdrängt-Erinnert"
von Dr. Erwin Wallraph. Der Landesverband der Angehörigen
und Freunde psychisch Kranker MV zeigt die Fotoausstellung
"Hab 8!", Bilder des Fotowettbewerbes 2009. Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Anker Sozialarbeit GmbH aus Schwerin sorgen
für Kaffee und Kuchen, die Dreescher Werkstätten
haben einen Büchertisch aufgebaut, viele Akteure waren
an den Vorbereitungen des heutigen Tages beteiligt.
+ + + 27. Januar 2010, 12.30 Uhr, Aula des Fridericianums:
In ihrer Heimatstadt Wismar, so Sandra Rieck - Koordinatorin
des heutigen Tages und stellv. Vorsitzende des Landesverbandes
Sozialpsychiarie MV - erinnern heute Stolpersteine an den
neunjährigen Günther N. und das Ehepaar Martha und
Rudolph N., sie kehrten nach ihrer Einweisung in die Schweriner
Nervenklinik nicht wieder zurück: Günther N. starb
in Schwerin und Martha und Rudolph N. später in Bernburg.
Die Koordinatorin begrüßt die Anwesenden und spricht
darüber, dass ihr die Arbeit in dieser Veranstaltungsreihe
helfe, zu einer reflektierten Haltung in der Sozialen Arbeit
zu finden. Die Zusammenarbeit stehe hier im Vordergrund mit
den Akteuren der Region, sehr wichtig sei dabei die stetige
Einbeziehung der Psychiatrieerfahrenen und der Angehörigenvertreter.
Musikschüler des Schweriner Konservatoriums begleiteten
mit anspruchsvollen Musikstücken die Redebeiträge
an diesem Nachmittag.
Der Staatssekretär des Landessozialministeriums, Nikolaus
Voss, überbringt die Grußworte der Ministerin und
mahnt in seiner Rede, die Möglichkeiten der Demokratie
auszuschöpfen, um rechtsradikalen Strömungen entgegen
zu treten.
Frau Angelika Gramkow, Oberbürgermeisterin der Stadt
Schwerin, zeigt sich beeindruckt von der Vielzahl der sozialen
Projekte und der sozialen Arbeit in der Stadt Schwerin, dankt
den daran Beteiligten Menschen und begrüßt die
Erinnerung an diesem Gedenktag, dem sich die Landeshauptstadt
Schwerin in diesem Jahr im Zeichen der "Euthanasie"-Opfer
angeschlossen hat und diese auch zu ihrer zentralen Gedenkveranstaltung
machte.
Was geschah damals auf dem Sachsenberg in Schwerin? Man muss,
so Prof. Dr. Andreas Broocks, Ärztlicher Direktor der
heutigen Carl-Friedrich-Flemming Klinik der HELIOS Kliniken
Schwerin, hinter dem sprunghaften Anstieg der Todeszahlen
um die Zeit zwischen 1939 und 1945 auf gezielte Tötungen
schließen. Neben den dokumentierten zwei Transporten
1941 von insgesamt 275 Patienten nach Bernburg bleiben viele
- zwischen zwei und dreitausend Patientenschicksale - z.T.
ungeklärt. Bei den über 100 Kindern der sog. Kinderfachabteilung
des zuständigen Dr. Leu in Schwerin konnten Tötungen
nachgewiesen werden. Hungerkost, das bewusste Herbeiführen
von Unterkühlungen und die Gabe von Medikamenten an vorher
geschwächte Patienten und Patientinnen, die Methoden
waren vielfältig.
Helga Schubert hat viele Seiten ihres Buches ausgewählt,
liest aus zeitlichen Gründen aber doch weniger vor. Sie
möchte auch vorab noch dazu erklären: ihre Arbeit
an dem Buch hat ihr tiefe Einblicke gewährt in ein System,
was nur durch die Diktatur lebte. Und das ist ihr Anliegen:
auf diesen Mechanismus auch heute zu verweisen. Und die Verurteilung
der Täter, wie des Dr. Leu beispielsweise, gelang häufig
nicht: er hatte sich z.B. bei der Stadt Köln als Gutachterarzt
nach 1945 wieder beworben. Eine lebenslänglich verurteilte
Schweriner Pflegerin hatte jedoch auf seine wahre Identität
aufmerksam gemacht. Doch das Ministerium für Staatssicherheit
gab die notwendigen Unterlagen für den Prozess nicht
heraus, Zeugen durften aus dem Ostteil Deutschlands nicht
in die Verhandlung. Ein gesamtdeutscher Schatten auf der Geschichte
und eine Verbrämung der Opfer allemal, denen außerdem
eine Anerkennung als NS-Opfer jahrzehntelang versagt blieb.
Aus dem Buch: die Nachtigall - ein Versuch, eine Metapher
für das Ver-rückte und doch Schöne, was untrennbar
zusammen zu gehören scheint. Das Beispiel der Geschichte
einer Patientin. Das Publikum muss weiterlesen, möchte
es mehr erfahren. Aber ein Ausschnitt wird erzählt an
diesem Nachmittag, in der Kürze der Zeit. Dieser beschreibt
die Auseinandersetzung mit Opfer-Schicksalen und Täter-Lebenswegen,
und was bleibt nach dem Verbrechen, nach dem Tod.
Christian Kaiser, Vorsitzender des Landesverbandes der Psychiatrieerfahrenen
Mecklenburg-Vorpommern, stellt sein eigenes heutiges Engagement
u.a. in das Zeichen des Trialoges von Menschen mit Psychiatrieerfahrung,
Angehörigen und Professionellen in den Psychoseseminaren.
Er wünscht sich noch viel mehr Beteiligung dabei, dass
Selbsthilfegruppen weiter wachsen und Menschen mit Behinderungen
eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Man müsse
versuchen, den Fähigkeiten des Einzelnen entsprechende
Arbeitsmöglichkeiten zu entwickeln, denn sie wollen und
können sich und ihre Fähigkeiten einbringen und
wollen nicht einfach nur "betreut" werden. Er wünscht
sich aber auch noch mehr Initiativen zur Selbsthilfe und Mut,
dabei zu sein.
Die Bundesvereinigung der Lebenshilfe e.V. hatte bei ihren
Gründungsvätern vor über 50 Jahren selbst Verwicklungen
mit diesem dunklen Kapitel zu bewältigen. Man muss sich
dem stellen, aus dieser Perspektive sprach Frau Prof. Nicklas-Faust,
stellv. Bundesvorsitzende. In ihrer Rolle als Mutter einer
schwer behinderten Tochter macht sie in eindrucksvoller Weise
Mut, Menschen mit Behinderungen ihr Lebensrecht zu zugestehen
und sich dafür auch sozial- und gesundheitspolitisch
einzusetzen. Heutige ethische Debatten fordern unsere Haltung
in diesen Fragen wieder aufs Neue heraus, so in der Pränataldiagnostik,
im Umgang mit alten, dementen und pflegebedürftigen Menschen.
Neuere Forschungen zeigen beispielsweise, so Prof. Nicklas-Faust,
dass auch Patienten im Wachkoma - anders als bislang angenommen
- weit mehr von ihrer Umwelt wahrnehmen, als noch bis vor
kurzem angenommen.
Prof. Dr. Klaus Dörner widmet seinen Vortrag Dorothea
Buck, der heute 93jährigen Ehrenvorsitzenden des Bundesverbandes
der Psychiatrieerfahrenen, als junge Frau in NS-Zeiten zwangssterilisiert
und nur knapp der "Euthanasie" entgangen. Die Sprachlosigkeit
in der Psychiatrie zu überwinden, das gelingt heute nur
durch konsequente Aufgabe der Strukturen von Institutionen,
in denen der Wunsch und die Würde des Einzelnen nicht
den notwendigen Raum finden können. In seinem Vortrag
zeigt er auf, wie es aus der (vollstationären) Institution
heraus, wie z.B. einem großen Wohnheim, zunächst
unmöglich erscheint, Eigenständigkeit in der Lebensführung
unter (z.B. ambulant betreuten) Bedingungen als möglich
anzusehen. Erst wenn dies umgesetzt sei, könne der Unterschied
erlebbar werden, das hindere heute auch Viele an der Umsetzung
dieses Grundsatzes. Aber Beispiele machen Mut, so in Rostock
und anderen Städten im Bundesgebiet, wo dieser Weg umgesetzt
würde. Prof. Dörner spricht auch von sich selbst,
von eigenen Irrtümern. Er hat erfahren, wie neue Wege
entgegen eigenen Annahmen möglich wurden.
+ + + 27. Januar 2010, 16.15 Uhr, Ende der Veranstaltung:
Diese deutschlandweit einmalige Regelmäßigkeit
des Gedenkens am 27.01., so Dörner anschließend
im Gespräch mit den Veranstaltern, müsse man in
Mecklenburg-Vorpommern unbedingt erhalten. Er macht dem Landesverband
Sozialpsychiatrie MV und den anderen Beteiligten Mut, diese
Veranstaltungsreihe fortzusetzen. Nach Stralsund 2008 und
Rostock 2009 sprach heute er bereits das dritte Mal 2010 in
Schwerin die abschließenden Worte.
Für 2011 gibt es Anfragen aus Vorpommern für die
Durchführung des Gedenktages. Bei der Auswertung des
27. Januar 2010 werden sich die Veranstalter damit befassen
und Zeit und Ort dann rechtzeitig bekannt geben. Und es werden
wieder Mitstreiter gesucht. In diesem Jahr haben neben privaten
Spendern auch die Gesellschafter der Aktion Mensch sowie die
Sparkasse Schwerin zum Gelingen des Tages beigetragen.
Die Ausstellung zur "Euthanasie" in Mecklenburg-Vorpommern
hing vom 27. Januar bis zum 3. Februar 2010 im Flur des Schweriner
Gymnasiums: vielleicht wurden einige Schüler und auch
Lehrer dadurch angeregt, sich mit diesem Thema auch im Geschichtsunterricht
bewusst auseinander zu setzen.


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